Die wilde Flucht einer 68-jährigen St. Gallerin von Bogotá in die Schweiz
Im Jahr 2021 reisen eine Rentnerin aus St. Gallen und ihr Mann nach Kolumbien, geködert mit dem Versprechen einer Erbschaft. Die Schweizerin wird wegen Kokainhandels festgenommen und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Nach zwei Jahren Hausarrest gelingt ihr die Flucht und sie kehrt in die Schweiz zurück.
Dies ist die unglaubliche Geschichte einer Rentnerin aus St. Gallen, die sich auf die Flucht begibt.
Im September 2021 erhält ihr Mann, ein 78-jähriger ehemaliger Schornsteinfeger, eine E-Mail von einem angeblichen afrikanischen Anwalt. Er teilt ihm mit, dass ihm eine Erbschaft zusteht, inklusive einer voll bezahlten Reise nach Kolumbien.
Der Ehemann freut sich über diese ideale Gelegenheit, um das 30-jährige Ehejubiläum zu feiern. Die damals 68-jährige Frau zögert zunächst, entschliesst sich dann aber, ihrem Mann ans andere Ende der Welt zu folgen.
Der Beitrag im Format Mise au Point des westschweizer Fernsehens RTS (in Französisch):
Am 18. September 2023 landete das Paar in der kolumbianischen Hauptstadt. Nach ein paar Tagen teilte ihnen ihre Kontaktperson vor Ort jedoch mit, dass sich ihre Pläne geändert hätten: Sie sollten nach Belgrad in Serbien reisen, um das Erbe anzutreten, und ein Paket dorthin bringen. Die Frau hat erneut Bedenken, aber der Mann ist bereit, das Paket in ihr Gepäck zu packen.
Am Flughafen von Bogotá entdeckt die Polizei mehr als drei Kilogramm reines Kokain, das in laminierten Büchern und Faxpapierrollen versteckt ist. Der Koffer trägt den Namen der Frau. Sie ist also diejenige, die festgenommen wird, als sie bereits im Flugzeug sitzt.
Inhaftiert im grössten Frauengefängnis
Die Rentnerin verbringt mehrere Wochen im grössten Frauengefängnis Kolumbiens neben 1800 Insassinnen, von denen die meisten wegen Drogenhandels verurteilt sind. Ihr Ehemann hingegen reist als freier Mann in die Schweiz zurück.
Bald verschlechtert sich der Geisteszustand der Rentnerin und ihre Anwälte erreichen, dass sie in den Hausarrest verlegt wird. Eine Ausnahme: Nach kolumbianischem Recht werden Drogendelikte grundsätzlich mit Gefängnis bestraft.
«Sie litt unter Stress, Einsamkeit und Angst. Wenn sie also noch eine harte Gefängnisstrafe draufsetzten, hätte das zu einem Zusammenbruch ihrer psychischen Gesundheit führen können.
Und andererseits wäre sie der Justiz nicht entgangen. Das waren die Argumente, welche die Anklage als notwendig oder ausreichend erachtete, damit sie in Hausarrest bleiben konnte», sagt ihr Anwalt Diego Henao Vargas in der Sendung Mise au point des Westschweizer Fernsehens RTS.
Die eigenwillige Mieterin
Die Schweizerin verbrachte fast zwei Jahre in einem Studio im Norden von Bogotá, das sie mit ihrer AHV-Rente bezahlte. Maribel beherbergte die Rentnerin während dieser Zeit. Sie war eine etwas eigenwillige Mieterin, die ihre Zeit mit Origami verbrachte und nie ausging.
«Das war der Platz von Suzanne*. Sie kam jeden Tag hier hoch, um sich zu sonnen und zu rauchen. Das war Suzannes Leben, sehr ruhig. Wir vermissen sie», sagt die Vermieterin.
«Sie hat immer gesagt, sie nehme sich eher das Leben als zurück ins Gefängnis zu gehen.»
Maribel, die Vermieterin
Bei ihrem Prozess im März 2023 erklärt sie sich bereit, sich schuldig zu bekennen, in der Hoffnung, dass sie unter Hausarrest bleiben und ihre Strafe verringern kann.
Ihr droht eine Haftstrafe zwischen 12 und 20 Jahren. Schliesslich wird sie zu einer Strafe von fünf Jahren verurteilt. Im August 2023 wird sie jedoch von einem Richter dazu verurteilt, wieder ins Gefängnis zu gehen.
Die St. Gallerin ist schockiert, als sie davon erfährt. Sie hat immer gesagt: «Ich gehe nicht zurück ins Gefängnis, ich nehme mir eher das Leben, als dass ich zurückgehen muss“, sagt Maribel.
Eine viertägige Reise
Suzanne, die ihren Pass und eine Kreditkarte behalten konnte, wählt eine andere Option: die Flucht. In der Nacht auf Sonntag, den 27. August 2023, ergreift die damals 68-jährige die Flucht. Ohne jemandem etwas zu sagen…
Von Bogotá aus nimmt sie einen Inlandflug nach Leticia, einer Stadt, die zwei Flugstunden entfernt im Süden des Landes an der Grenze zu Brasilien liegt.
Leticia ist eine kleine Stadt mitten im Amazonasgebiet, durch die eine unsichtbare Grenze verläuft. Mit einem Tuk-Tuk verlässt die Rentnerin Kolumbien in Richtung Brasilien.
Drei Kilometer Luftlinie entfernt befindet sich ein weiterer Flughafen, der Tabatinga-Flughafen. Von dort aus fliegt sie nach Manaus und Sao Paulo, bevor sie nach Paris und Zürich weiterfliegt. Eine unglaubliche Reise: 5 Flüge und mehr als 15.550 Kilometer in 4 Tagen!
«Sie wusste ganz genau, wie viel die Fahrt kostet»
Taxifahrer in Leticia
In Leticia traf die Redaktion von Mise au point einen Mann, der behauptete, die Schweizerin wiederzuerkennen. «Ich habe sie hier am Flughafen abgeholt. Sie zeigte mir einen GPS-Punkt auf ihrem Handy und sagte mir, ich solle sie zum Flughafen Tabatinga bringen. Sie kannte die Kosten, sie wusste genau, wie viel sie zahlen musste», erinnert er sich.
Zurück in Gams
In Zürich angekommen, kehrt sie nach Gams zurück, dem kleinen Dorf im Kanton St. Gallen, in dem sie über 30 Jahre lang mit ihrem Mann gelebt hat.
Doch nicht bei ihm findet die Flüchtige Zuflucht. Nach den zwei Jahren im Exil will sie ihn nicht mehr sehen. Sie mietet ein Zimmer im Hotel Schäfli im Zentrum des Dorfes, 300 Meter von ihrer alten Wohnung entfernt.
Im März findet sie schliesslich eine Unterkunft und lebt nun in einem Nachbardorf. Dort hat sie RTS getroffen. Das Fernsehen hatte sie vor ihrer Flucht ausführlich interviewt. Derzeit aber zieht sie es vor, sich bedeckt zu halten und nicht mehr vor der Kamera zu sprechen.
Ihre juristischen Schwierigkeiten sind noch nicht ausgestanden. Die Rentnerin ist derzeit auf freiem Fuss. Im November letzten Jahres aber wurde sie von der Staatsanwaltschaft St. Gallen vorgeladen, die eine Untersuchung eröffnet hat.
Diesmal wurde auch ihr Ehemann angehört. Dem Paar droht ein neues Verfahren. Diesmal in der Schweiz.
*Name geändert
In Kolumbien ist der Richter, der die Schweizerin verurteilt hat, verärgert, als er in der Sendung Mise au point erfährt, dass sie sich in der Schweiz aufhält.
Seiner Meinung nach konnte die Rentnerin nicht alleine gehandelt haben, als sie die Flucht ergriff, sondern die Botschaft und der Bundesrat müssten ihr als Komplizen geholfen haben.
Diese Anschuldigung wird vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) kategorisch zurückgewiesen. Das EDA behauptet, es sei erst später darüber informiert worden, als Suzanne* bereits in der Schweiz war.
«Unabhängig von den Umständen wurde hier in Kolumbien ein Verbrechen begangen. Es war die Schweizer Regierung, sehr wahrscheinlich, ich bin mir fast absolut sicher, die interveniert hat, damit sie von hier ausreisen konnte. Sie sehen unsere Länder als Jagdgründe der Europäer, sie sehen uns immer noch als Indianer, die sie kolonisieren, erobern und unterwerfen müssen», sagt Hermens Dario Lara Acuna, Richter am Obersten Gericht in Bogotá.
Der Schweizerin drohen weitere vier bis neun Jahre Haft wegen ihrer Flucht. Ausserdem liegt ein internationaler Haftbefehl gegen sie vor. Nach Schweizer Recht kann sie jedoch nicht ausgeliefert werden.
Dieser Artikel erschien zuerst auf RTS Externer Linkund wurde von SWI swissinfo.ch auf Deutsch übertragen.
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