Die wundersame Auferstehung des Edelweiss Village in Kanada
Sie standen vor dem Abriss, nun wurde den Chalets in den kanadischen Rocky Mountains neues Leben eingehaucht. Zu Besuch bei einem Schweizer Erbe, das voller Geschichten steckt.
Gelbe Wanderwegschilder weisen den Weg zu einer Handvoll Chalets, Schweizer Fähnchen flattern im Wind. Im Hintergrund: dichte Wälder und felsige Berggipfel, die sich durch tiefhängende Wolken bohren.
Wer das «Edelweiss Village» betritt, wähnt sich kurz in einem Schweizer Bergdorf. Doch die kleine Siedlung steht weder im Wallis noch im Berner Oberland, sondern 8’000 Kilometer weit entfernt – im westkanadischen Golden, mitten in den Rocky Mountains. Es ist der Ort, wo vor über 125 Jahren zahlreiche Schweizer Bergführer und ihre Familien eine neue Heimat gefunden und ihre Spuren hinterlassen haben.
Die Schweizer kamen als Saisonniers
Der erste, der aus der Schweiz kam, war Peter Sarbach, 1897. Seine erfolgreichen Bergtouren mit Tourist:innen liessen die kanadische Eisenbahngesellschaft (CPR) den Wert der professionellen Schweizer Bergführer erkennen. Und so stellte die CPR Guides wie Eduard Feuz oder Christian Haesler aus Interlaken im Berner Oberland ein.
Diese erste Generation der Schweizer Bergführer in Kanada waren Saisonniers. Im Sommer führten sie Tourist:innen auf die zahlreichen Berggipfel, im Herbst reisten sie wieder ab. Doch die Reise zwischen Golden und dem Berner Oberland war beschwerlich. Allein die Schifffahrt auf oft stürmischer See dauerte über drei Wochen.
Mit der Zeit wurde ihnen dieses Pendeln zwischen der Heimat und Kanada zu anstrengend. Auch wollten die Swiss Guides ihre Familien nicht mehr monatelang zurücklassen. Die CPR reagierte. Die Gesellschaft baute 1912 sechs Chalets an einem Hang zwei Kilometer ausserhalb von Golden. Sie nannten es das «Swiss Edelweiss Village».
Die Schweizer Bergführer wohnten fortan mit ihren immigrierten Familien in den nachgeahmten Schweizer Chalets. Für die meisten Frauen und Kinder war diese Siedlung aber zu weit weg, vor allem in den Jahren, als es noch keine Autos gab. Nach und nach zogen die Familien ins Dorfzentrum. Zuletzt wurden die Chalets nicht mehr bewohnt, alle sechs Gebäude gehörten am Ende den Nachkommen von Bergführer Walter Feuz.
Der drohende Abriss
Vor drei Jahren kamen die baufälligen Häuser zu einem Schnäppchenpreis auf den Markt. Ihnen drohte der Abriss. Um das Schweizer Kulturdenkmal davor zu bewahren, wurden die beiden Auslandschweizer:innen Ilona Spaar und Johann Roduit aktiv. Beide leben seit Jahren in Kanada, sind aber noch immer tief mit der Schweiz verbunden.
Spaar hatte schon mehrere Publikationen über die Schweizer Bergführer und die Immigration von Schweizer:innen in Kanada veröffentlicht. Roduit war als Auslandschweizerrat und Innovationsstratege gut vernetzt und davon überzeugt, dass das Erbe der Schweizer Bergführer nicht an den helvetischen Grenzen Halt macht.
«Meine grosse Hoffnung ist, dass der lokale Tourismus die Geschichte und den Wert des Edelweiss Village für sich entdeckt und versteht», sagte Spaar vor drei Jahren gegenüber SWI swissinfo.ch, das den drohenden Abriss damals als erstes Medium aufgriff. Die Resonanz: riesig.
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Zahlreiche Medien in der Schweiz, in Kanada und international berichteten in der Folge über die bedrohten Schweizer Spuren in den Rocky Mountains. Das Schicksal der Holzhäuser, es schien viele Menschen innerhalb und ausserhalb Kanadas zu berühren. Spaar und Roduit sahen sich dadurch in ihrem Vorhaben bestätigt – sie gründeten eine StiftungExterner Link und kämpften Seite an Seite für den Erhalt des Schweizer Kulturerbes in Kanada.
Eine Investition von mehreren Millionen
Drei Jahre später sind die sechs Chalets allesamt frisch saniert. Sie tragen Namen wie «Feuz» oder «Hermann», benannt nach den einstigen Schweizer Bergführer-Pionieren. Und sie beherbergen an diesem Wochenende im Oktober sogar den Schweizer Botschafter und den Schweizer Konsul, die aus Ottawa und Vancouver angereist sind. «Man spürt fast ein bisschen die Präsenz der Schweizer Bergführer», sagt Botschafter Olaf Kjelsen über sein Nachtlager.
Reden, Alphornklänge, ein schweizerisch-kanadischer Männerchor und immer wieder Applaus. Offiziell werden 125 Jahre Schweizer Bergführer zelebriert. Doch der eigentliche Anlass: die gelungene Rettung des Edelweiss Village.
Möglich gemacht hatte dieses Happy End letztlich eine Investorin aus dem Immobilienbereich, welche die Chalets gekauft und sie dabei nicht nur konserviert, sondern von Grund auf renoviert und zu Ferienhäusern umgebaut hat. Mehr als drei Millionen kanadische Dollar steckte sie in das Projekt, was fast zwei Millionen Schweizer Franken entspricht.
Die neue Besitzerin sieht Potential in diesem Objekt. «Wir sahen den enormen Wert der Geschichte der Chalets, der von Besucher:innen und Gästen geschätzt wird», sagt Davin Macintosh, Partner bei der Investorin MontayneExterner Link. Das Resort diene als lebendiges Museum, heisst es auf der Webseite des Unternehmens weiter.
Und es gibt noch weitere Pläne für das fast 80 Fussballfelder grosse Grundstück, auf dem die Chalets stehen. Neben einem Spa und weiteren Häuschen, soll es dereinst auch die «Swiss Guides Great Hall» geben, einen Ort für Veranstaltungen, Hochzeiten, Ausstellungen oder Konferenzen.
Zwar nimmt man es mit der Denkmalpflege hier in Kanada offensichtlich nicht ganz so genau wie in der Schweiz, aber die Investorin hat den kulturellen Wert dieser Häuser erkannt. Historikerin Spaar sagt: «Für mich ist es kein Widerspruch, die Spuren der Geschichte zu bewahren und sie mit zeitgenössischem Design zu mischen.»
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Im Innern des Chalets Aemmer wird klar: Hier hat man der Geschichte des Hauses bewusst ihren Platz gelassen. Das Bad und die Küche sind modern, die Räume gespickt mit liebevollen Details, die an die einstige Schweizer Präsenz erinnern: Edelweiss-Tapete, Militärdecke, Tabakpfeife, Eispickel, Schweizer Kochbuch und überall Bilder der Schweizer Bergführer und ihrer Familien.
Die obere Veranda des Chalet Feuz
Die Stadt Golden, der kilometerlange Zug, der im Tal vorbeirattert, der Columbia River, der in der Sonne glitzert, die Rockies: Die Aussicht vom Plateau, auf dem die Chalets stehen, beeindruckt noch heute. «Es gibt keinen schöneren Ort, um einen Herbstnachmittag zu verbringen, als die obere Veranda des Chalet Feuz», schrieb schon vor über 100 Jahren Mrs. Arthur (Ellen) Spragge, Autorin des Buches «From Ontario to the Pacific».
Auf genau dieser Veranda steht nun die älteste Enkelin von Walter Feuz, die 83-jährige Margaret Murry. Sie selbst lebt zwar seit 56 Jahren im 550 Kilometer entfernten Edmonton. Aufgewachsen ist sie jedoch in Golden. Als junge Frau lebte sie mit ihrem Ehemann während sechseinhalb Jahren in einem der Chalets, «ein Starter-Haus», wie sie es nennt.
Murry ist glücklich, dass die Häuser noch stehen. Bei den Renovationen sei hervorragende Arbeit geleistet worden, findet sie. «Aber ehrlich gesagt, wäre ich noch glücklicher gewesen, wenn sie einfach so geblieben wären, wie sie waren.» Ihr fehlt das Alte. Es fühle sich nach der Erneuerung einfach nicht mehr gleich an.
Stolz auf die Schweizer Spuren
Mittlerweile finden im örtlichen «Civic Centre» weitere Feierlichkeiten und eine Konferenz statt. Wieder Alphornklänge, wieder der Männerchor, wieder Applaus.
Dies spielt sich alles unter den Augen vieler Auslandschweizer:innen ab, die hier am anderen Ende der Welt ihr neues Zuhause gefunden haben. Solche, die schon vor mehreren Jahrzehnten hierher ausgewandert sind. Aber auch junge Landsleute, die erst vor kurzem mitten in den Rocky Mountains gelandet sind.
Da ist der ehemalige Schweizer Eishockeyprofi, der mit seiner Frau und den vier Kindern eine Lodge betreibt oder der junge Marketingfachmann, der nach seinem Zwischenjahr hier hängen geblieben ist. Oder der 79-jährige Heliskiing-Pionier, der mittlerweile als echte Legende des kanadischen Bergsports gilt, oder die pensionierte Lehrerin, die schon vor Jahren mit ihren Schüler:innen das Edelweiss Village besuchte.
Sie alle haben eine besondere Beziehung zu den Schweizer Bergführern. Und deshalb sind sie hier. Die einen sitzen auf dem Podium, die anderen hören im Publikum zu oder engagieren sich hinter den Kulissen für die Stiftung. Und alle sind stolz auf die Spuren, die ihre alte Heimat in der neuen hinterlassen hat.
Stolz auf das Erreichte ist auch das Auslandschweizer-Duo Spaar und Roduit. Sie haben innert kürzester Zeit geschafft, wovon sie zu Beginn kaum zu träumen wagten. Die Geschichte der Schweizer Bergführer in den Rocky Mountains lebt auch durch sie weiter. Sie wird in Zukunft wohl noch lebendiger werden.
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>>> Wir haben Auslandschweizer:innen vor Ort gefragt, was ihnen die Schweizer Spuren in Kanada bedeuten.
Editiert von Balz Rigendinger.
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