«Diese Mumie ist mein Urgrossvater»
Jede Familie hat ihre Geheimnisse – in dieser ist es ein Vorfahre, der zur Mumie wurde. Jahrzehntelang war die Geschichte von Claudio Mazzucchellis «Urgrossvater Pascha» eine sagenumwobene Anekdote in der Familie des ehemaligen Diplomaten. Doch dann wurde sie wahr.
Kairo, 1992. Vor zwei Jahren hat das Eidgenössische Auswärtige Amt (EDA) dem Gesuch von Claudio Mazzucchelli stattgegeben, als Konsul die Interessen der Schweiz in Ägypten zu vertreten, einem Land, dem der Diplomat besonders verbunden ist.
Zu Mazzucchellis Aufgaben gehört es, einmal im Monat nach Alexandria zu reisen, um einer Handvoll älterer Schweizer Rentner:innen, die in der Stadt leben, die AHV-Renten in bar zu überbringen. Seine Kontaktperson in Alexandria ist eine Frau, welche die Familie des Konsuls gut kannte, erklärt Mazzucchelli gegenüber SWI swissinfo.ch.
Eines Tages klingelt das Telefon. Am anderen Ende des Hörers teilt ihm die Stimme dieser Frau aus Alexandria eine beunruhigende Nachricht mit: «Im Leichenschauhaus liegt die Leiche eines Schweizers.»
Vielleicht hat ein Tourist einen Unfall gehabt? Vielleicht muss ich eine AHV-Rente weniger nach Alexandria bringen? Die Fragen des Konsuls weichen dem Unglauben, als die Frauenstimme ihm sagt: «Es ist die Mumie Ihres Urgrossvaters.»
Der Appenzeller Pascha
Herisau, Appenzell Ausserrhoden, 1837. Johannes Schiess wird im Haus seiner Familie geboren. Niemand im kleinen Dorf in der Ostschweiz ahnt, welch eigenartiges Schicksal diesem Kind widerfahren wird.
Johannes Schiess studierte in Basel und später in Bern Medizin und arbeitete als Arzt in Paris und Berlin. Danach schloss er sich einem «italienisch-schweizerischen Komitee» an, das sich auf Kreta um die Rebellen des kretischen Aufstandes von 1867-1869 kümmerte, wie es auf der Rückseite einer Fotografie von Schiess aus dem Jahr 1907 heisst. Dort aufgeschrieben ist die kurze Biografie des Arztes, «eines Mannes, dem die Stadt Alexandria gerade ein feierliches Begräbnis bereitet hat».
Es ist nicht bekannt, wie der Appenzeller auf Kreta in Kontakt mit illustren ägyptischen Persönlichkeiten kam. Im Jahr 1869 wird er von Chedivé Ismail zur Einweihung des Suezkanals eingeladen.
Für Schiess ist dies ein Wendepunkt. Die Region gefiel ihm so gut, dass er beschloss, nach Alexandria zu ziehen. Er macht Karriere am staatlichen Krankenhaus, dessen Direktor er wird, baut es aus und schafft ein Labor, in dem berühmte Wissenschaftler studieren.
Er arbeitete unter anderem intensiv mit dem deutschen Arzt Robert Koch zusammen, der zusammen mit Louis Pasteur als Vater der modernen Bakteriologie gilt. Martina Mazzuchelli verweist auf die Website des Robert-Koch-InstitutsExterner Link, wo sich sich mehrere Briefe finden, die Schiess an die Koryphäe geschickt hat. Die Nichte von Claudio hat in den letzten Jahren eine enorme Menge an Dokumenten (Zeitungsartikel, Postkarten, Fotos) über ihren Vorfahren gesammelt.
Schiess wurde auch zu einer prominenten Persönlichkeit in der Stadtpolitik Alexandrias. Die Bildunterschrift des Fotos, das Claudio Mazzucchelli zeigt, lautet: «Seine Exzellenz Dr. Med. Johannes Schiess Pascha, Bürgermeister von Alexandria».
Es ist nicht klar, ob er tatsächlich das Amt des Bürgermeisters innehatte, aber auf der Rückseite des Fotos ist angegeben, dass er Vizepräsident des Stadtrats war.
Seine grosse Leidenschaft galt jedoch der Archäologie. In dem Dokument heisst es, dass das staatliche Krankenhaus auf dem Gelände des Palastes der ptolemäischen Dynastie steht, und Schiess organisiert dort erfolgreiche Ausgrabungen. Später wurden dank ihm zahlreiche weitere Expeditionen in ganz Ägypten durchgeführt.
«Er war eines der Gründungsmitglieder des Archäologischen Museums von Alexandria» – das griechisch-römische Museum, das heute noch existiert –, sagt Mazzucchelli. Der 1910 verstorbene Johannes Schiess gab in seinem Testament an, dass er einbalsamiert werden wollte «wie eine Mumie … er muss ein etwas seltsamer Typ gewesen sein», fügt sein Urenkel hinzu.
Das Geheimnis des Sarkophags
Die Enkelin von Johannes Schiess, Mazzucchellis Mutter, verliess Ägypten mit ihren Eltern in den 1950er-Jahren, nach dem Staatsstreich von Nasser, wie viele andere Ausländer:innen auch. Ihr Ziel ist der Kanton Tessin, wo ihr Vater ursprünglich herkommt.
«Als Kind habe ich oft die Geschichte meines Urgrossvaters, des Paschas, gehört», sagt der ehemalige Konsul. Es ist bekannt, dass er sich mumifizieren liess und in einem grossen Granitsarkophag in den Gärten des Staatlichen Krankenhauses in Alexandria beigesetzt wurde.
In den 1960er-Jahren löste sich der Sarkophag jedoch in Luft auf, möglicherweise wurde er gestohlen. Auch vom Bewohner fehlt jede Spur, bis zu diesem Telefonanruf im Jahr 1992.
Die Mumie taucht ewieder auf, als die Universität Alexandria ihren riesigen Keller umgestaltete. Der mumifizierte Schiess befand sich in einer Holzkiste mit einer Plakette, die ihn identifizierte. Die Universität brachte den Leichnam in die Leichenhalle, wo er einige Monate lang blieb.
«Irgendwann mussten sie Platz für frischere Tote schaffen», sagt Mazzucchelli, und die Behörden wandten sich an die für Schweizer Interessen zuständige Dame in Alexandria, um herauszufinden, was mit der Mumie geschehen sollte.
Johannes Schiess ist jetzt auf dem anglikanischen Friedhof in Alexandria begraben. An seiner zweiten Beerdigung nahmen Mazzucchelli, seine Frau, der Direktor des Archäologischen Museums, ein Priester und ein paar andere Personen teil. Nicht gerade die feierliche Zeremonie wie bei der ersten Beerdigung. Ob der Pascha etwas dazu zu sagen gehabt hätte?
«Wenn ich damals nicht Konsul in Ägypten gewesen wäre, hätten wir wahrscheinlich nie erfahren, was mit ihm passiert ist», sagt Mazzucchelli. «Meine Frau sagt immer, dass es in den Sternen stand und dass er, mein Urgrossvater, der Pascha, es wollte».
Übertragung aus dem Italienischen: Janine Gloor
Mehr
Mehr
Die neusten Geschichten
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch