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Ein Ausgewanderter besucht jedes Jahr sein Heimatdorf – und fotografiert

Ein Bauer arbeitet auf seinem Hof
Die Arbeit auf einem Bauernhof in Vrin im Kanton Graubünden. Verner Soler

Während 30 Jahren fotografiert der ausgewanderte Schweizer Verner Soler bei jeder Rückkehr sein Heimatdorf Vrin. Daraus entstand ein Fotoband, der ungefiltert Einblick in den Alltag der Vriner:innen gibt.

Wer in den Seen und Meeren dieser Welt taucht, lernt von Beginn an, wie wichtig es ist, dass man langsam aus den Tiefen der Gewässer aufsteigt. Dem Körper Zeit lässt.

Es ist diese Metapher eines aufsteigenden Tauchers, die Verner Soler nutzt, um die Reise von seinem Wohnort, der vibrierenden Metropole Los Angeles, in seinen Heimatort, das idyllische Dorf Vrin im Kanton Graubünden, zu beschreiben.

«Vrin – Flüchtige Heimat» ist ein dreisprachiger Fotoband und erschien im September 2024 im Verlag Chasa Editura Rumantscha CER.

Über 40 Jahre liegt seine Auswanderung nach Amerika zurück, der Bündner hat sich dort ein Leben aufgebaut, eine Familie gegründet, arbeitet als Creative Director bei der Werbeagentur Saatchi & Saatchi, wo er Kampagnen für Marken wie Toyota kreiert.

Das Gefühl der Heimat aber erfährt er nur in jenem Bündner Bergdorf in der Val Lumenzia. «Heimat ist die Verbindung sowohl zu den Menschen als auch zum Land», sagt Soler. Ersteres finde er in Vrin und Los Angeles, letzteres nur in Vrin.

Ein junge und ein Hund in den Bündner Bergen.
Jedes Jahr fotografierte Verner Soler das Leben in seiner Heimat Vrin. Verner Soler

Der Drang, die Verbindung in seine Heimat aufrecht zu erhalten, sowie «schar encrescher» – Rätoromanisch für Heimweh – veranlassten Soler zum nun vorliegenden Buch: «Vrin – Flüchtige Heimat» ist ein Fotoband, der mit Fotografien und Texten auf Deutsch, Englisch und Rätoromanisch Einblicke in Leben und Wandel im Bündner Bergdorf gibt.

Auf der Suche nach Antworten

Auszuwandern stand zunächst nicht auf dem Plan. Verner Soler besuchte das Lehrerseminar, unterrichtete sechs Monate in Vrin. Doch: «Ich wusste bereits während der Ausbildung, dieser Beruf ist nicht für mich», sagt er heute. Das beunruhigte ihn. Von klein auf eher scheu und sensibel, fest im Dorf Vrin verankert, hatte er Angst vor der Aussenwelt. Erst mit dem Entscheid gegen den Lehrerberuf wurde ihm bewusst: Er musste in die Welt hinaus.  

Was ihn allerdings verunsicherte: «Alle um mich wussten, was sie wollten und wer sie sind. Ich dagegen hatte das Gefühl, etwas würde mit mir nicht stimmen.» Rückblickend, so Soler, sei das kein untypisches Gefühl für einen jungem Mann in diesem Alter.

Ältere Frau sitzt auf dem Specksteinofen und liest die Zeitung
Solers Mutter sitzt auf dem Specksteinofen und liest die Nachrichten aus der Welt. Verner Soler

Trotzdem, diese Unsicherheit belastete den Zwanzigjährigen. Sein Interesse wurde geweckt, als er im Lehrerseminar in Psychologie unterrichtet wurde. «Ich merkte schnell, irgendwo da waren die Antworten auf meine Fragen.» Soler befasste sich stärker mit der Thematik und stiess Mitte 80er Jahre auf eine Therapiemöglichkeit in Los Angeles.

Obwohl eine Reise nach Zürich Soler bereits Angst machte, überwog eine andere Befürchtung: «Ich wollte mich nicht mein Leben lang wundern, was geschehen wäre, wenn ich die Chance wahrgenommen hätte.»

Er besorgte sich ein Visum für sechs Monate, verlängerte dann seinen Aufenthalt auf ein Jahr und – nachdem er kurz illegal in Amerika lebte – «hatte ich das absolute Glück, eine Green Card in der damaligen Lotterie zu gewinnen».

Seine Eltern und engen Freunde wussten von der Therapie, für alle anderen ging Soler nach Amerika, «um Englisch zu lernen und vielleicht Psychologie zu studieren. Mental Health war damals so stigmatisiert. Ich rede erst seit etwa zehn Jahren offener über die Therapie.» Dies ganz bewusst: «Als ich 17 oder 18 Jahre alt war, hätte es mir sehr geholfen, wenn Menschen offen über Therapien und psychische Gesundheit geredet hätten. Ich hätte mich weniger anders gefühlt.»

Vriner im Herzen

1993, Verner Soler ist aus Amerika zu Besuch in Vrin. Er beobachtet, wie sein Vater Käse auf dem Maiensäss herstellt. Zum letzten Mal. «Da verspürte ich den Drang, dieses Bild festzuhalten. Das ist meine Geschichte, so bin ich aufgewachsen. Wenn diese Dinge nicht mehr da sind, ist auch ein Teil meines Lebens weg», sagt Soler. Er fotografierte, um seine Geschichte aufzubewahren, «wie ein Archivar».

Ein Bauer melkt seine Kuh.
Giusep war früher Käser auf der Alp Ramosa. «Er hat in seinem Leben wahrscheinlich mehr Kühe gemolken als alle anderen Bauern im Dorf», schreibt Soler zum Bild. Verner Soler

Die Freude am Fotografieren hat der heute 56-Jährige bereits während seines Lehrerseminars entdeckt. Ein guter Freund besass eine Minolta, die Fotos wurden in dessen enger Studentenwohnung in Chur via Diaprojektor bestaunt. Bald kam die erste eigene Kamera – von einem Vriner, der sie nicht mehr brauchte – und Soler kratzte das Geld für den ersten Film zusammen. «Fotografieren war für mich immer meine Kunst, bei der ich machen konnte, was ich wollte.»

«Vrin – Flüchtige Heimat» ist ein fotografisches Tagebuch, das zum einen das Leben und den Wandel im Bündner Bergdorf in den letzten 30 Jahren akribisch und mit viel Feingefühl dokumentiert, zum anderen mit Panoramaaufnahmen einen Hauch Nostalgie und Wehmut verbreitet.

«Es ist meine Art, mit dem Heimweh umzugehen und die Bindung zum Dorf und zur Familie aufrechtzuerhalten», schreibt Soler im Vorwort. Diese Bindung spürte er am stärksten bei den Porträtaufnahmen: die alte Küche im Haus seines Onkels, dieser sitzt auf einem Stuhl, Solers Vater steht hinter ihm, schneidet ihm die Haare; Solers Mutter, in grüner Schürze und dicken Finken, auf dem Specksteinofen, die Zeitung in der Hand; ein älterer Mann in verblasst violettem Hemd, den Hammer in der Hand, die Sense über das Knie.

In der Küche werden die Haare geschnitten.
Ein Schnappschuss aus der Küche: Solers Vater schneidet dem Onkel die Haare. Verner Soler

Solers Porträts sind nicht gestellt. Er sass mit den Menschen in ihren Stuben, besuchte sie bei der Arbeit, man redete über alte Zeiten, im richtigen Moment drückte Soler ab. «Diese Momente waren sehr nah und persönlich. Ich spürte, dass die Menschen mich immer noch als Vriner sehen, ein wichtiges Gefühl.»

Weggehen, um zurückzukommen

Die Fotografien der Menschen, Traditionen und Alltagssituationen aus Vrin bilden den Kern des Fotobands, das Buch lebt aber auch durch seine Bildlegenden und Texte, die Soler in drei Sprachen verfasst hat: Englisch, Deutsch und Rätoromanisch. Es ist nach Angaben des Verlags das erste rätoromanische Buch, das auf dem Buchmarkt in den USA erscheint.

Älteres Ehepaar beim Sortieren von Johannisbeeren.
Solers Eltern bearbeiten die frisch gepflückten Johannisbeeren. Verner Soler

Vor allem die englischen Texte haben für Soler eine tiefere Bedeutung. «Als wir – als letzte in unserem Dorf – einen Fernseher erhalten haben, strömten die Geschichten von der Welt in unsere Stube und machten unsere eigene Geschichte zunichte.»

«Ich hatte das Gefühl, wir würden hinter dem Mond leben», sagt Verner Soler. Ein Satz, den auch seine Mutter gerne als Witz verwendete: «Wir sind halt von Vrin, wir verstehen die Welt nicht und sie uns nicht.»

Erst in Amerika wurde Soler bewusst: «Unsere Geschichte ist genauso wichtig wie all diese Geschichten aus Hollywood. Und für mich ist sie noch viel wichtiger.» Mit dem Buch will er etwas aus Vrin in die Welt hinaustragen.

Alter Mann sitzt barfuss im Gras, dahinter Bergpanorama.
«Eine Woche am Anfang des Sommers, und dann spürt man nichts mehr», antwortete Solers Vater, wenn sich die Leute wunderten, ob ihn seine Füsse nicht schmerzten. Verner Soler

 «Home through an Emigrant’s Lens», der englische Titel des Fotobands, rückt den Fokus auf eine weitere Perspektive des Buchs. Jene des Ausgewanderten, dessen Blick von aussen auf seine Heimat gerichtet ist und dessen Wahrnehmung dieser Heimat sich allmählich verändert.

«Wie ein Fisch im Wasser, der keine Ahnung hat, dass er im Wasser schwimmt», erklärt Soler. «Als ich aus dem Wasser aufgetaucht und danach wieder eingetaucht bin, habe ich gewisse Dinge anders wahrgenommen.»

Es waren kleine Dinge, die Soler ins Auge stachen. Etwa sein Vater, der seit seiner Pensionierung im Sommer fast nur noch barfuss unterwegs war – oder mit Solers abgewetzten Clogs aus den 80er Jahren – oder den Berg Tgiern Vanescha, den Soler jedes Jahr zur selben Zeit fotografierte. Anhand dieser Bilder kann er Rückschlüsse auf das Wetter und die Arbeit der Bäuer:innen im entsprechenden Jahr ziehen. Verner Soler weiss: «Ich musste weggehen, um gefühlsmässig wieder zurückzukommen.»

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