Heimatort, oh Heimatort: Das einzigartige Schweizer Konzept von Herkunft

Der Geburtsort ist in fast allen Reisepässen der Welt obligatorisch. Nicht so in der Schweiz. Schweizer Pässe und Identitätskarten kennen nur den Heimatort. Was ist der Unterschied – und was bedeutet das für Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer?
Jede Schweizerin und jeder Schweizer hat einen Heimatort. Viele hätten aber Mühe, auf einer Landkarte das Dorf zu finden, in dem entfernte Vorfahren einst lebten und das jetzt auf ihrem Ausweis aufgedruckt ist.
«Das Konzept des Heimatorts ist eine Schweizer Besonderheit und weltweit einzigartig», schreibt Jrene Rolli in der Schweizer Zeitschrift AnnabelleExterner Link. Überrascht war sie, als sie feststellte, dass ihr Heimatort nach einer Gemeindefusion vom kleinen, grünen Dörfchen Belpberg in die Kleinstadt Belp, Sitz des Berner Flughafens, verlegt worden war.
+ Wenn die Gemeindefusion zu Identitätsverlust führt
«Ich war entrüstet, fühlte mich meiner Identität beraubt», schimpfte sie, obwohl sie zugab, dass sie nie etwas für Belpberg empfunden hatte, da sie im nahen Bern geboren und aufgewachsen war.
«In Belpberg lebten vor zig Jahren zwar meine Vorfahren, ich weiss jedoch nicht, wer die waren, wie sie lebten und wieso sie sich genau dort niederliessen.»
Sie beschloss, sich auszutoben, indem sie am Fluss entlang zu ihrem neuen Heimatort joggte. «In diesem Moment fühle ich mich stärker mit meinem schweissnassen Funktionsshirt verbunden (das seine Funktion mässig erfüllt) als mit meinem Heimatort. Dessen Funktion ist nämlich fraglicher.»
In der Schweiz entspricht der Heimatort oder Bürgerort derjenigen Gemeinde, in der ein Schweizer Bürger oder eine Schweizer Bürgerin das Bürgerrecht erhalten hat. Er ist also weder mit dem Geburtsort noch mit dem Wohnort gleichzusetzen.
Er wird auf allen Zivilstandsurkunden (z.B. Geburts-, Heirats- oder Todesschein) und Ausweisen (Pass oder Identitätskarte) von Schweizer Bürgerinnen und Bürgern aufgeführt, dies im Unterschied zu anderen Ländern, die den Geburtsort aufführen.
Fragen zur Existenz von Schweizer Vorfahren sind an die zuständigen Zivilstandsämter des Heimatorts oder, wenn bekannt, des Heimatorts der Vorfahren zu richten.
Wenn die Suche bis in die 1870er-Jahre zurückreicht, können die Nachforschungen bei den zuständigen Staatsarchiven durchgeführt werden.
In der Alten Eidgenossenschaft war der Heimatort der Ort, an dem die Vorfahren lebten, wo sie Rechte und Pflichten sowie ihr Bürgerrecht erworben hatten. Der Heimatort ist in diesem Sinn von Bedeutung, weil die Zivilstandsdaten unabhängig vom Ort der Ereignisse dort festgehalten sein müssen, auf jeden Fall seit 1876 und in der Regel seit 1800.
Aufgezeichnet sind allerdings nur die Ereignisse, die auch dem Heimatort mitgeteilt wurden. Vor 1900 gab es noch kein kantonales oder nationales Auswandererregister. Das bedeutet, dass die zuständige Gemeinde (Heimatort) unbedingt bekannt sein muss.
Quelle: Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA)Externer Link
Dieser fehlende Bezug zum Heimatort ist nicht ungewöhnlich. Vor einigen Jahren strahlte das Schweizer Fernsehen SRF die Spielshow «Heimspiel» ausExterner Link, in der «drei Kandidierende in ihren Heimatort und zu ihren Wurzeln zurückgeschickt» wurden.
Die Kandidatinnen und Kandidaten, die meist schon seit Jahren nicht mehr jener Stadt oder jenem Dorf lebten, wurden dann auf ihre Ortskenntnisse und Fähigkeiten getestet. Eine unterhaltsame Art, etwas über die malerischen Teile des Landes zu erfahren.
Auch die Schweizerischen Bundesbahnen sahen ihre Chance und boten am Nationalfeiertag 2009 ein «Heimat-Ticket» an, mit dem man für 15 Franken in seinen Heimatort und zurück fahren konnte.
«Viele Schweizer Bürger wissen nicht einmal, wie ihr Heimatort aussieht», sagte SBB-Sprecher Reto Kormann in der Tageszeitung Der BundExterner Link. Der Nationalfeiertag sei geeignet für eine Reise «zu den eigenen Wurzeln».
Wie kam es dazu? Wie kommt es, dass ein administratives Konzept so viele Emotionen auslöst und in Quizsendungen und auf Bahnbilletts landet?
Früher ein Transatlantik-Ticket
Hunderte von Jahren hatten die Schweizer Gemeinden ein Abkommen mit ihren Bürgerinnen und Bürgern: Im Gegenzug für die Erfüllung bestimmter Pflichten – zum Beispiel die Mitgliedschaft in der städtischen Wehr und die Zahlung eines finanziellen Ausgleichs – kümmerte sich die Gemeinde um sie, wenn sie in Not gerieten.
Kinder erbten den Heimatort ihres Vaters, und Ehefrauen nahmen nach der Heirat den Heimatort ihres Ehemanns an.
Heute erben die Kinder den Heimatort jenes Elternteils, dessen Nachnamen sie tragen, und die Heirat ändert daran nichts – obwohl die Menschen, wenn sie wollen, ihren Heimatort ändern oder mehr als einen haben können, normalerweise gegen eine geringe Verwaltungsgebühr.

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Wie wird man Schweizer Staatsbürger*in?
Als das Konzept eingeführt wurde, war der Heimatort eines Menschen in der Regel auch der Ort, an dem sie oder er lebte. Die zunehmende Mobilität führte jedoch dazu, dass immer mehr Menschen aus ärmeren Regionen anderswo ein besseres Leben suchten, oft in Städten.
Im Fall einer Hilfsbedürftigkeit übernahm der Heimatort weiterhin die Sozialhilfekosten und erstattete diese an den neuen Wohnort.
Für Mittellose war das eine gute Nachricht: Statt von Gemeinde zu Gemeinde geschoben zu werden, konnten sie sich immer auf ihren Heimatort verlassen. Wurden sie jedoch an einem neuen Wohnort beim Betteln erwischt, konnten sie nach Hause geschickt werden.
«In der Folge wurden zahlreiche Bettlerjagden veranstaltet und die Nichtsesshaften karrenweise aus dem Kanton geschafft», heisst es im Historischen Lexikon der SchweizExterner Link.
Der Heimatort hatte keinen Einfluss darauf, ob und in welchem Umfang Bedürftige in anderen Kantonen Sozialhilfe erhielten, aber er musste für die Kosten aufkommen. Das belastete die Gemeindekassen.
Deshalb boten einige Gemeinden im 19. Jahrhundert ihren ärmsten Bürgerinnen und Bürgern an, ihnen ein Billett über den Atlantik zu kaufen – unter der Bedingung, dass sie auf ihr Bürgerrecht und damit auf den Anspruch auf Sozialhilfe verzichteten. Viele nahmen dieses Angebot an und liessen sich in Nord- oder Südamerika nieder.
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Im Verlauf des 20. Jahrhunderts verlagerte sich die Verpflichtung zur Armenfürsorge allmählich vom Heimat- auf den Wohnort. 1990 wurde der Erstattungszeitraum auf zwei Jahre verkürzt, aber der Heimatsort konnte immer noch Einfluss auf das Leben haben, wie folgendes prominente Beispiel zeigt.
Der Schweizer Schriftsteller Robert Walser (1878-1956) wurde in Biel im Kanton Bern geboren und wuchs dort auf. 1929 wurde bei ihm eine Schizophrenie diagnostiziert, und er wurde in eine Berner Heilanstalt eingewiesen.
Vier Jahre später wurde er jedoch gegen seinen Willen in eine Anstalt im Kanton Appenzell Ausserrhoden verlegt, da sich dort Teufen befand – sein Heimatort.
2012 hat das Eidgenössische Parlament beschlossen, dass der Wohnort bei Sozialhilfefällen keinen Anspruch mehr auf Rückerstattung durch den Heimatort hat. «Der Heimatort wird irrelevant», titelte die Neue Zürcher ZeitungExterner Link (NZZ) damals.
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Ein Symbol der Identität
Fünf Jahre später hatte die NZZ ihre Meinung nicht geändertExterner Link. «Der Heimatort hat praktisch jede Bedeutung verloren», schrieb sie. «Trotzdem wagt niemand dieses Symbol der Identität anzutasten.»
Bereits 2001 hatte das Parlament darüber debattiert, in den Schweizer Ausweisen den Heimatort durch den Geburtsort zu ersetzen. Wie Walter Glur von der Schweizerischen Volkspartei damals argumentierte, sei der Geburtsort aber zu willkürlich: «Die Geburt könnte überall stattfinden.» Viele Schweizerinnen und Schweizer stimmten ihm zu.
Sie tun es immer noch. 2023 veröffentlichte das Bundesamt für Polizei (Fedpol) die Ergebnisse einer UmfrageExterner Link, in der es um die gleiche Frage ging, beziehungsweise um die Frage, ob im Ausweis auf die Angabe eines Orts ganz verzichtet werden soll.
Die Umfrage zeigte, dass weiterhin eine grosse Mehrheit für die Beibehaltung des Heimatorts in Ausweisen ist. «Begründet wird dies insbesondere mit der emotionalen und rechtlichen Bedeutung, die der Heimatort in der Schweiz noch hat. Ein Verzicht auf den Heimatort könnte zudem die Identifikation erschweren und eine Aufnahme des Geburtsortes könnte für Personen mit ausländischen Geburtsorten zu Problemen führen bzw. diese stigmatisieren.»
Das Hauptargument der wenigen Befragten, die sich für eine Umstellung auf den Geburtsort aussprachen, war die Angleichung an die international übliche Praxis.
Das Hauptargument gegen die Eintragung des Heimatorts oder des Geburtsorts war, dass es keine gesetzlichen Bestimmungen gibt, die dies zwingend vorschreiben.

Bedeutung für die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer
«Einer der Reize des Heimatorts ist seine Konstanz», schrieb Der Bund 2012. «Er bleibt bestehen, auch wenn die Familie über die ganze Welt verstreut ist. Für die rund 700’000 im Ausland registrierten Schweizerinnen und Schweizer [Ende 2023 waren es 813’000] ist ihr Heimatort wohl der greifbarste Wert, den sie heute haben.»
Im Artikel wurde darauf hingewiesen, dass für Schweizer Bürgerinnen und Bürger, die im Ausland leben, der Heimatort als Gerichtsstand gilt, zum Beispiel im Fall einer Scheidung.
Bei Wahlen und Abstimmungen können Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer zudem auswählen, ob sie ihre Stimme an ihrem früheren Wohnsitz oder an ihrem Heimatort abgeben wollen.

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Wenn eine Speichelprobe das Leben verändern kann
Die Auslandschweizer-Organisation (ASO) war eine der Dachorganisationen, die das Fedpol für den Bericht 2023 befragte. Als Befürworterin des Heimatorts weist die ASO darauf hin, dass im Familienregister des Heimatorts sämtliche Daten zum Zivilstand erfasst werden, «was für die Verwaltung in den Konsulaten, aber auch für die Bürgerinnen und Bürger Vorteile bringt».
Denn ein zentrales Register helfe, Personen schnell zu identifizieren und Unklarheiten zu beseitigen, besonders bei konsularischen Schutzfällen im Ausland. Auch Angehörige könnten so schnell ermittelt und benachrichtigt werden.
Die ASO wies auch auf die Problematik hin, dass die Eintragung eines problematischen Geburtsorts im Ausland die Einreise in bestimmte Länder erschweren oder zu Diskriminierungen führen könnte. Als Beispiel führte sie eine in Tel Aviv geborene Schweizerin an, die in den Iran reiste.
Laut ASO hat der Heimatort für viele Menschen eine «emotionale und traditionelle Bedeutung». «Er kann auch ein Familienarchiv sein. Aufzeichnungen über Familien werden in der Heimatgemeinde aufbewahrt, unabhängig davon, wo sie jetzt leben, und das kann für die Erforschung der Familiengeschichte wertvoll sein.»
Auch Annabelle-Journalistin Jrene Rolli anerkennt die Rolle, die ein Heimatort für Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer spielen kann. «Die Vorstellung, auf eine karibische Insel auszuwandern und Kokosnusswasser schlürfend die Abstimmungen von Belp zu beeinflussen, amüsiert mich», schreibt sie. «Und löst bei mir damit stärkere Emotionen aus, als dass dies mein Heimatort je zuvor getan hat.»
Editiert von Samuel Jaberg/gw, Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
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