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Zora del Buono: «Ich konnte das Buch erst jetzt schreiben»

Eine Frau und ein Hund
Zora del Buono und ihr Hund in Zürich. Stefan Bohrer

Wer war der Mensch, der vor 60 Jahren den Tod ihres Vaters verschuldete? Mit der Spurensuche "Seinetwegen" steht die Schweizer Autorin Zora del Buono auf den Bestsellerlisten und wurde für den deutschen Buchpreis nominiert. Der autofiktionale Roman ist auch eine Standortbestimmung ihres eigenen Lebens zwischen Deutschland und der Schweiz.

«Seinetwegen» knüpft an ihren Erfolgsroman «Die Marschallin» an, in dem ihre slowenische Grossmutter und damit das Elternhaus ihres italienischen Vaters in Bari im Zentrum stehen.

Nun führt Zora del BuonoExterner Link die Familiengeschichte in die nächste Generation fort. Sie nimmt die Jahre in den Blick, in denen ihr Vater Manfredi del Buono als junger Röntgenarzt nach Zürich kam und dort im Spital ihre Mutter, eine Schweizerin, kennenlernte. Doch die junge Liebe endete nach wenigen Jahren tragisch.

Zora del Buono war erst acht Monate alt, als ihr Vater auf einer Schweizer Landstrasse mit 33 Jahren tödlich verunglückte. Der Fahrer eines entgegenkommenden Fahrzeugs hatte halsbrecherisch einen Milchwagen überholt und stiess frontal mit dem VW-Käfer zusammen, in dem ihr Vater und Onkel sassen.

Für die Tochter war seine Absenz in ihrem Leben normal. Einen Menschen, den man nie kannte, kann man nicht vermissen, sagt sie. Doch die Leerstelle hat sie ein Leben lang geprägt.

Ihre eigenen «Deformationen» listet sie schonungslos in dem Buch auf. Unter ihnen die Unfähigkeit, sich auf Beziehungen einzulassen – aus Angst, dass sie erneut auf einen Schlag vorbei sein könnten.

Der Unfall geschah 1963. «Ich konnte das Buch erst jetzt schreiben», sagt sie beim Treffen in Berlin-Kreuzberg. Nicht weit von hier hat sie immer noch ein WG-Zimmer, zu ihren Füssen liegt einer ihrer Hunde, die in «Seinetwegen» und in ihrem Leben ihre steten Begleiter sind.

Erst die Demenz der Mutter, die nun in einem Altersheim in Zürich lebt, verschaffte der Tochter die innerliche Freiheit, sich mit ihrem Vater zu beschäftigen. Dessen tragischer Unfalltod war zeitlebens ein Tabu zwischen Tochter und Mutter.

«Ich dachte, ich müsste sie schützen. Heute bereue ich, dass wir nicht darüber geredet haben.» Das Buch ist auch eine Hommage an diese starke Frau, die das Leben als berufstätige Alleinerziehende in Zürich mit viel Würde meisterte und nie wieder heiratete.

Als sie die Wohnung ihrer Mutter im Zuge des Umzugs auflöst, findet die Tochter einen Zeitungsartikel über den Unfallprozess, der sie in die Vergangenheit katapultiert.

Der «Töter» mit den Initialen E.T. wurde 1963 angeklagt, befand sich schuldig und kam mit einer minimalen Strafe davon. Ihre Neugier wird geweckt: Wer war der Mann, der durch ein riskantes Überholmanöver die kleine Familie zerstörte? Wie kam er mit seiner Schuld zurecht? «Ich dachte, vielleicht lebt er ja noch. Ich muss mich beeilen.»

So viel wie möglich ist wahr

Und so kehrte sie für die Recherche in die Heimat zurück, der sie in jungen Jahren erst nach Amsterdam und dann nach Berlin entfloh. Dort arbeitete sie in der Nachwende-Zeit zunächst als Architektin und gründete dann mit einem Schweizer Freund das renommierte «Mare»-Magazin.

Für ihre Reportagen reist del Buono durch die ganze Welt und hat sich als Autorin einen Namen gemacht. Hartnäckig sein, neugierig Augen, Ohren und Herz offenhalten, das sind Eigenschaften, die sie als Journalistin seit Jahrzehnten auszeichnen. Insofern fiel «Seinetwegen» ihr nicht schwer. «Das Buch war nicht aufwändig. Es entspricht so sehr mir», sagt sie.

Das Ergebnis ist ein kunstvoll arrangiertes Mosaik aus Recherche und Reflektionen, Fakten und Protokollen von Caféhaus-Gesprächen mit Freunden. Die haben wirklich so stattgefunden, sagt sie.

Sie gab Themen vor, der Freundeskreis diskutierte über Schuld, Erinnerungen und Bindungen. Diese durchaus unterhaltsamen und zugleich informativen Einschübe dienen ebenso wie Exkurse über Unfallstatistiken dazu, ihr eigenes Schicksal in einen grösseren Kontext einzubetten.

Eine Frau
Zora del Buono pendelt mittlerweile zwischen Deutschland und Zürich. Stefan Bohrer

Was ihrer Familie widerfuhr, geschieht nach wie vor jeden Tag. Das zu betonen, ist ihr wichtig: Tödliche Autounfälle traumatisieren eine ganze Familie. «Hinter jedem Fall stehen viele Geschichten.»

Sie habe Orte, Gegenden und einige Namen geändert und etwas montiert. «Aber so viel wie möglich ist wahr.» So auch die Szene, in der sie bei ihrer Mutter zwei Super-8-Filme findet. Darauf ihre Eltern als frisch verliebtes Paar während eines Zoobesuchs: lachend, lebendig, lebensfroh.

«Allein dafür hat sich die Recherche gelohnt. Die waren einfach ein junges, cooles Pärchen.» Ihre Mutter plötzlich so ganz anders, keck, glücklich und lustig. «Ich kenne sie nur als traurige Witwe.» Sie begreift, was ihr genommen wurde.

Sie selbst wurde während der Recherche mit neuen Erinnerungen beschenkt. Unter anderen meldete sich die heute 85-jährige Krankenschwester, die einst ihren Vater in den Tagen vor seinem Tod pflegte.

Die alte Frau erinnerte sich noch an erstaunlich viele Details. Manfredi del Buono starb in dem Spital, in dem er als Röntgenarzt gearbeitet hatte. Alle liebten den lebenslustigen Mediziner und waren in tiefem Schock.

«Sie sagte, das ganze Spital habe damals geweint.» Eine heute hochbetagte Mitärztin erzählte der Tochter wiederum lustige Geschichten über den «jungen Italiener in Zürich». Die vielen Leerstellen rund um ihren Vater haben sich mit neuen Geschichten und Bildern gefüllt. Dafür ist sie dankbar.

Der «Töter» wird zum Menschen

Und auch von dem Unfallverursacher Eduard Traxler kann sie sich am Ende ein Bild machen – eines, das sie versöhnlicher stimmt. Ein hilfsbereiter Archivmitarbeiter beschafft ihr die Prozessakten, sie geben Auskunft über den Unfallhergang und Traxlers Biografie.

Er ist mittlerweile verstorben, aber Gespräche mit seinen Bekannten zeichnen ihn als einen durchaus liebenswerten Menschen, dem sie sogar Mitgefühl entgegenbringen kann. Er litt sein Leben lang unter dem Unfall, fuhr nie wieder Auto, lebte recht einsam, war vermutlich homosexuell.

So ist «Seinetwegen» auch ein Zeugnis von Mitmenschlichkeit und des Vergebens. «Es tut mir wirklich leid, dass wir nicht gesprochen haben. Es wäre gut für ihn gewesen», sagt Zora del Buono.

Die Autorin taucht nicht nur in ihre Familiengeschichte ein, sondern hat auch zahlreiche Begegnungen mit Fremden in ihrer alten Heimat. So sehr der Anblick des Bergpanoramas und der herrlich geschmückten Kühe während des Alpabzugs sie auch berühren, zugleich bringen Begegnungen mit abweisenden Einheimischen auch das Gefühl der Enge zurück, dem sie vor Jahrzehnten entfloh.

Es ist auch ein Ringen mit der sozialen Kultur der Schweiz, der sie sich nun wieder neu annähert. Nach Jahrzehnten in Deutschland und auf Mare-Recherchereisen auf der ganzen Welt pendelt del Buono mittlerweile zwischen Deutschland und Zürich.

Dort hat sie seit dem vergangenen Jahr auch wieder eine Wohnung und geniesst den ruhigeren Alltag. «In Zürich ist alles so schön nah», sagt sie. Abends nach dem Theaterbesuch sei sie in fünf Tramstationen wieder zuhause. Im Foyer trifft man immer bekannte Gesichter.

Und doch schätzt sie nach wie vor die Brüche Berlins, die wilde Stadtnatur, die auch aus Geldmangel ungezügelt vor sich hin spriesst. «Ich bin in beiden Welten zuhause.» Die meisten Freunde in Zürich seien Deutsche.

Sie plant sie bereits einen weiteren Familienroman. Im Mittelpunkt sollen ihre Tante und das Leben von unverheirateten jungen Frauen in Zürich in den sechziger und siebziger Jahren stehen.

Die Recherche dafür hatte sie bereits begonnen, als sich die Geschichte ihres Vaters in den Vordergrund schob. «Aber vielleicht sollte ich jetzt auch erst einmal eine Pause von den Familienrecherchen einlegen», sagt sie und lacht.

Dann würde sie die Zeit nutzen, die schottische Küste abzufahren und mit Menschen über die Veränderungen nach dem Brexit zu reden. Vielleicht ergibt sich aber auch etwas ganz anderes. «Die Ideen gehen mir nicht aus.»

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