Im Berner Simmental liegt ein Ursprung des europäischen Hexenwahns
Die erstaunlich frühe Beschreibung einer Hexenjagd im Schweizer Simmental wurde zur Blaupause für Hexenverfolgungen in ganz Europa. Was zum Teufel steckt dahinter?
Um 1400 wurden im Simmental im Berner Oberland mehrere Personen der Hexerei beschuldigt. Im Mittelpunkt stand ein Mann aus der Ortschaft Boltigen, weit hinten im Tal.
Dieser habe durch Zauber Fehlgeburten verursacht, Vieh geschädigt und Ernten vernichtet, steht geschrieben. Unter Folter gestand er, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen zu haben.
Auch von Zauberern ist zu lesen, die einer Sekte angehörten. Sie hätten den Teufel angebetet, Kinder ermordet und Kannibalismus praktiziert. Sie alle wurden zum Tod verurteilt.
So steht es in der Schrift «Formicarius» des deutschen Dominikanertheologen Johannes Nider. Dieses 1430 geschriebene Buch, eine moralische Abhandlung zur Unterweisung junger Dominikaner, wurde zu einer zentralen Quelle für den berüchtigten «Hexenhammer» (Malleus Maleficarum). Im Europa des 15. und 16. Jahrhunderts war dieser das Lehrbuch zur Hexenjagd, die Tausende von Menschenleben forderte.
«Die von Nider gesammelten Zeugenaussagen trugen wesentlich zur Verbreitung des Hexenglaubens und insbesondere der Vorstellung des Hexensabbats in Europa bei», sagt Catherine Chêne, Historikerin an der Universität Lausanne, die sich mit frühen Hexenjagden in der Schweiz beschäftigt.
Doch hat die Hexenjagd im Simmental, die Johannes Nider beschreibt, wirklich stattgefunden? Historiker:innen sind sich da nicht sicher.
Ein Problem für die Geschichtswissenschaft ist, dass es nur eine Quelle gibt – den Formicarius. Eine zweite Herausforderung sehen Fachleute in der Tatsache, dass die Berichte aus dem Berner Oberland ein grosses Novum darstellten, da sie Elemente der Hexenlegende enthielten, die andernorts erst später auftraten.
Von Juden zu Hexen
Kirchliche Verfolgungen gegen Andersgläubige, sogenannte Häretiker, gab es zur Zeit der beschriebenen Simmentaler Hexenjagd schon lange; sie reichen bis ins 12. Jahrhundert zurück. Die Verfolgung der Waldenser, einer Vorläufer-Bewegung des Protestantismus, im 14. Jahrhundert bildet zumindest in der Schweiz einen Vorläufer der Hexenprozesse.
Der italienische Historiker Carlo Ginzburg argumentiert in seinem Buch «Hexensabbat – Entzifferung einer nächtlichen Geschichte» zudem, dass im 14. Jahrhundert die kirchlich gelenkten Pogrome gegen Juden, die Verfolgung von Leprakranken und schliesslich die grosse Pestepdiemie, die Europa ab 1347 heimsuchte, den Boden für die ersten Hexenjagden in Mitteleuropa bereiteten.
Nach und nach weiteten sich die Feindbilder aus, vom kleinen Kreis der Leprakranken hin zu Hexen und Zauberern, bei denen es sich grundsätzlich um jeden handeln konnte. Die grosse Verfolgungswelle begann aber erst im 15. Jahrhundert, was die Ereignisse im Simmental zu einem sehr frühen, ja womöglich ersten Fall machen würde.
Der Hexenglaube formiert sich
Erstmals wurden dort zentrale Elemente späterer Hexenanklagen protokolliert – etwa der Teufelspakt, der «Sabbat» und die Vorstellung, dass die Hexen und Zauberer mit Hilfe des Teufels Schadenzauber (maleficium) anrichten konnten.
Catherine Chênes historische Untersuchungen in Berner Archiven zeigen, dass es in den bernischen Gebieten ab dem frühen 15. Jahrhundert Prozesse gegen Zauberer gab. «Der Glaube an den Hexensabbat spielte jedoch noch keine Rolle, anders als im französischsprachigen Teil der Diözese Lausanne.»
Erste Hexenverfolgungen
Dass die ersten Hexenverfolgungen vor allem in der Westschweiz auftraten, erklärt sich unter anderem dadurch, dass es hier nach den Waldenserprozessen eine funktionierende Inquisition gab. Ausserdem war die gesamte Region und vor allem Westfrankreich in den Fokus der Kirche geraten, nachdem der 1409 gewählte Papst Alexander V. dem zuständigen Grossinquisitor befahlen hatte, dort gegen aufkommende Sekten mit «verbotenen Riten» vorzugehen.
«Die Art der Anschuldigungen in den Simmentaler Berichten stellte ein Novum dar und könnte von Johannes Nider aus anderen Quellen zusammengetragen und seinem Hauptinformanten, einem Richter namens Peter, zugeschrieben worden sein, um ihnen mehr Legitimität zu verleihen», mutmasst Chêne.
Rätsel um Richter Peter
Die Identität dieses Berner Richters ist noch immer ungeklärt, was die Suche nach Fakten erschwert. Die meisten Historiker:innen, die sich mit dem Thema befassen, vermuten, dass es sich um Peter von Greyerz gehandelt hat, der zwischen 1392 und 1406 bernischer Vogt im Obersimmental war.
«Jedoch zeigen meine Archivrecherchen», so Chêne, «dass auch andere Vögte mit dem Namen Peter infrage kommen: etwa Peter Wendschatz (1407–1410) oder Peter von Ey (1417). Über die Identität der Vögte zwischen 1418 und 1432 fehlen Aufzeichnungen.»
Politische Spannungen
Doch falls die Berichte aus dem Simmental erfunden sind, was könnte dafür Grund sein?
Wie bei den meisten Hexenverfolgungen bereiteten gesellschaftliche Spannungen den Nährboden dafür. Solches gab es damals auch im abgeschiedenen Berner Simmental.
So könnte der politische Wandel im Obersimmental ab 1389 – nach der Eingliederung in das Berner Herrschaftsgebiet – zu Konflikten zwischen Bern und seinen neuen Untertanen geführt haben.
Das Muster dafür ist bekannt. «Studien zu einer Hexenjagd im Wallis im Jahr 1428 haben gezeigt, dass die Verfolgungen dort auf einen Konflikt zwischen Baron Guichard von Raron und seinen Walliser Bürgern gründeten», berichtet Chêne.
Ein kurzes Echo möglicher Spannungen im Obersimmental findet sich denn auch im Formicarius: An einer Stelle wird beschrieben, wie Richter Peter einem «bösartigen» Anschlag zum Opfer fiel: Vier Männer und eine alte Frau hätten ihn als Reaktion auf eines seiner Urteile angegriffen.
Die Hexenanschuldigungen könnten dem Richter somit als wirkungsvolles Werkzeug gedient haben, um seine Gegner zu verfolgen. Und seine Berichte boten wiederum Nider und später den Verfassern des Hexenhammers guten Stoff, um die Idee einer verbreiteten Hexenverschwörung zu propagieren.
Persönliche Paranoia
Neben politischen Spannungen könnten auch persönliche Umstände des Richters eine entscheidende Rolle gespielt haben. Laut der Historikerin Kathrin Utz-Tremp litt Peter von Greyerz an paranoiden Wahnvorstellungen, wie sie in ihrem Fachpaper «Ist Glaubenssache Frauensache: Zu den Anfängen der Hexenverfolgungen in Freiburg» schrieb.
Am Ende seiner Amtszeit habe Peter von Greyerz das Simmental völlig entnervt und hysterisch verlassen und dann «sein Leid Johannes Nider geklagt, der die Geschichte im Sinn der Hexerei uminterpretierte.»
Störender Aberglaube
Womöglich hatte Greyerz Mühe mit der widerspenstigen Bergbevölkerung im Obersimmental, die vielleicht auch stärker am Aberglauben festhielt. Diese Einstellung gegenüber Hochlandbewohnern findet sich auch bei Johannes Nider.
Der Mangel an Predigern habe dort grosse Unwissenheit hinterlassen, was die Bevölkerung anfällig für illegale Praktiken gemacht habe, so seine Einschätzung. «In einer seiner Anekdoten prangert er Gläubige an, die bei einem Fluch unerlaubte Heilmittel einsetzten, anstatt sich allein auf Gebet zu verlassen», sagt Chêne.
Ob kulturelle oder politische Spannungen, persönliche Hysterie oder tatsächliche Hexen und Zauberer – klar ist, dass es um 1400 im Obersimmental zu politischen und gesellschaftlichen Spannungen kam, die in in Hexenlegenden ihren Niederschlag fanden. Durch ihre Reproduktion im «Formicarius» und später im «Hexenhammer» legten sie einen zentralen ideologischen Grundstein für die verheerenden Verfolgungswellen, die in den Folgejahrhunderten ganz Europa heimsuchten.
Editiert von Balz Rigendinger
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