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Immer mehr Schweizer Jüdinnen und Juden erwägen Auswanderung nach Israel

Antisemitismus
Am Rand einer Mahnwache gegen Antisemitismus: Wo ein radikalisierter Jugendlicher in Zürich einen Juden niedergestochen hat, protestiert eine Frau mit Palästinenser-Fahne. Keystone / Michael Buholzer

Antisemitismus ist nicht der Hauptgrund, warum die Schweizer Gemeinschaft in Israel wächst. Doch immer mehr Jüdinnen und Juden denken deswegen ans Auswandern.

Die Gemeinschaft der Schweizerinnen und Schweizer in Israel wächst fortlaufend um mehrere Hundert Personen pro Jahr. 2023 kamen 833 Schweizerinnen und Schweizer dazu.

Nicht alle in dieser Statistik erfassten Personen sind nach Israel ausgewandert, denn die Schweizer Community in Israel wächst auch durch Geburten innerhalb dieser Gruppe von Schweizer Staatsangehörigen.

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Dass aber auch die Auswanderung zunehme, sagt Ralph Steigrad in einem InterviewExterner Link mit dem Portal «Audiatur Online».

Steigrad vertritt seine Schweizer Landsleute in der Auslandschweizer-Organisation ASO und verweist auf Angaben des Schweizer Konsulats in Israel. Das Schweizer Aussendepartement kommentiert diese Angaben nicht.

Anfeindungen als Auswanderungsgrund?

«Ich hätte erwartet, dass nach dem 7. Oktober viele Schweizer aus Israel in die Schweiz zurückkehren würden», fügt Ralph Steigrad im Interview an.

Doch laut Schweizer Konsulat in Tel Aviv sei die Zuwanderung nach Israel sogar leicht gewachsen. «Mit dem Anstieg des Antisemitismus in Europa dürfte die Schweizer Gemeinschaft weiterwachsen», vermutet er.

Wird der zunehmende Antisemitismus in der Schweiz also für jüdische Menschen zum Grund, die Schweiz zu verlassen? Aus Frankreich zum Beispiel wandern seit Jahren mehr jüdische Menschen nach Israel aus, weil sie sich angesichts antisemitischer Übergriffe und Diskriminierung nicht mehr sicher und heimisch fühlen.

In der Schweiz wäre das Phänomen in dieser Breite neu. Das Bundesamt für Statistik publiziert die Auslandschweizerstatistik mit den Zahlen von 2024 am 28. März.

«Die Schweiz ist nicht mehr speziell»

Neue Zahlen gibt es bereits zum Antisemitismus. Wie sehr er seit dem 7. Oktober 2023 angewachsen ist, hält der soeben erschienene Antisemitismusbericht 2024Externer Link fest.

«Antisemitismus in der Schweiz hat sich spürbar gegen jeden Widerstand durchgesetzt. Was vor dem 7. Oktober im Versteckten gedacht und gesagt wurde, ist an die Oberfläche gespült worden», steht darin.

«Man ist immer davon ausgegangen, dass die Schweiz im Bereich Antisemitismus speziell ist, dass sie anders tickt als die europäischen Länder», sagt Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerisch Israelitischen Gemeindebunds SIG. «Das ist nicht mehr so.»

Terrorattacken triggerten den Hass

Beschimpfungen, Anspucken, Tätlichkeiten oder Angriffe auf Leib und Leben seien bis anhin nur «ferne Geschehnisse aus dem Ausland» gewesen, heisst es im Antisemitismus-Report 2024 der SIG. Heute seien sie Realität.

Der jährliche Antisemitismus-Bericht liefert eine nach Themen geordnete, chronologische Übersicht über die Vorfälle, die in die Statistik eingeflossen sind. Auffällig war der August 2024, er lieferte das ganze Panoptikum von Übergriffen auf die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz.

In Davos greifen zwei Männer einen jungen jüdischen Mann an. Sie schlagen ihm ins Gesicht, spucken ihn an und rufen dabei «Free Palestine». In einer Bergbahn sagt ein Mann zu einer jüdischen Familie: «Eine richtige Plage, wie Heuschrecken.»

In Zürich versucht jemand, Feuer in einer Synagoge zu legen. Im Kanton Aargau sagt ein Fussballspieler zu einer jüdischen Fussballmannschaft: «Man sollte euch alle verbrennen, ihr scheiss Juden!»

In Unis, auf den Strassen, in alternativen Beizen wird eine Parole herumgereicht, die auch als Aufruf zur Auslöschung Israels verstanden werden kann: «From the river to the sea, Palestine will be free». Gleichzeitig wird das Vorgehen Israels in Gaza mit dem Holocaust verglichen.

«2024 sehen wir die grösste Kumulation von antisemitischen Vorfällen in der Schweiz, die wir je hatten», sagt Jonathan Kreutner.

Ihm ist zudem aufgefallen: Die grösste Welle von Tätlichkeiten gegen jüdische Menschen habe in der Schweiz 2023 unmittelbar nach den Terrorattacken der Hamas stattgefunden, also bevor die Offensive Israels im Gazastreifen in Teilen der Bevölkerung zu Antipathien gegen Israel führte.

«Damals stand noch für alle fest, dass Jüdinnen und Juden die Opfer waren», sagt er, «und gerade dies nahmen einige zum Anlass, ihren unterschwelligen Hass gegen jüdische Menschen auszuleben.»

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Was ebenfalls auffällt: In den Jahren vor 2023 konnten die Verfasserinnen und Verfasser des Antisemitismus-Berichts die meisten Spitzen von antisemitischen Vorfällen in der Statistik noch konkreten Ereignissen zuordnen.

Also Vorfällen, die für Aufmerksamkeit oder Ressentiments sorgten und antisemitische Reaktionen triggerten.

Messerattacke in Zürich als Zäsur

Seither dominieren laut dem Bericht jedoch langfristige Auslöser: «Dies begann mit der Coronapandemie, dann kam der Ukrainekrieg, und seit dem 7. Oktober 2023 herrscht das Attentat der Hamas und der eskalierte Krieg in Nahost als Trigger vor.»

Insbesondere eine Messerattacke auf Juden durch einen radikalisierten 15-jährigen Zürcher mit tunesischem Hintergrund Anfang März 2024 wurde für viele zur Zäsur. Ein Familienvater überlebte den Anschlag nur durch Glück.

Danach sei vieles im Leben von jüdischen Schweizerinnen und Schweizern aus den Fugen geraten. «Als jüdisch erkannt zu werden, birgt heute für viele ein zu hohes Risiko», stellt der Bericht fest.

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Laut Kreutner haben die Schweizer Behörden und die Schweizer Politik zwar schnell und entschieden auf das Aufflammen des Antisemitismus reagiert.

SP-Bundesrat Beat Jans habe die Messerattacke in Zürich verurteilt – «in einer Deutlichkeit, wie ich sie noch nie gehört habe», sagt Kreutner.

SVP-Bundespräsident Albert Rösti fand an einer Gedenkfeier «die richtigen Worte». «Wir teilen Ihre Trauer, wir teilen Ihr Entsetzen», sagte Rösti nach dem 7. Oktober im Namen der Schweiz.

Die Polizei beschützt eine Synagoge in Zürich.
Die Polizei beschützt eine Synagoge in Zürich. Keystone / Michael Buholzer

Auch die Sicherheitskosten seien rasch der veränderten Realität angepasst worden, sagt Kreutner.

Vermeidungsverhalten

Dennoch hat sich das subjektive Sicherheitsgefühl von Jüdinnen und Juden laut einer Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) verschlechtert. Ein Ausdruck davon ist, dass mehr jüdische Menschen daran denken, die Schweiz zu verlassen.

Es ist eines der so genannten Vermeidungsverhalten, welche die ZHAW-Kriminolog:innen bei der jüdischen Bevölkerung festmachen konnten. Jüdische Menschen verstecken ihr Judentum – und denken übers Auswandern nach.

Der Anteil jüdischer Schweizerinnen und Schweizer, die eine Auswanderung in Betracht ziehen, wuchs in nur vier Jahren um 10% auf nunmehr 28,4%.

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Zu einer Auswanderungswelle wie nach dem Sechstagekrieg 1967 oder dem israelischen Wirtschaftswachstum um die Jahrtausendwende ist es aber bisher nicht gekommen.

Ohnehin sind die Gründe für das stetige Wachstum der Schweizer Community in Israel mehrschichtiger als anderswo.

Zum einen ist die Migration dieser Community stark zirkulär, viele kehren nach einer Zeit wieder zurück. Auch darum bleibt die Zahl der Jüdinnen und Juden in der Schweiz trotz kontinuierlicher Abwanderung seit Jahren konstant bei rund 18’000 Personen.

Der Wanderungssaldo über die letzten Jahre lag mit Ausnahme von 2023 stets bei weniger als 100 Personen.

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«Jeder hat eine eigene Geschichte», sagt Auslandschweizer-Vertreter Ralph Steigrad. «Manche ziehen aus beruflichen Gründen um, andere heiraten in Israel, wieder andere fühlen sich kulturell oder religiös zum Land hingezogen. Und manche Einwanderer sind ultraorthodoxe Schweizer Juden, die wenig Kontakt zur restlichen Gemeinschaft haben.» Die Gemeinschaft sei sehr gemischt. 

Altersstruktur der Auslandschweizer in Israel.
Altersstruktur der Auslandschweizer in Israel. BFS

Zum andern ist auch die Geburtenrate unter den Schweizerinnen in Israel höher als anderswo, das legt ein Blick auf die Bevölkerungspyramide dieser Community nahe. Sie weist gegenüber dem Durchschnitt der Auslandschweizerinnen und -schweizer einen Überhang an Kindern aus.

Der grösste Treiber der statistischen Wachstumskurve ist also vorderhand bei den Ausgewanderten selbst zu finden und keine offensichtliche Folge der steigenden Ressentiments gegen Jüdinnen und Juden.

Doch diese haben sich «auf hohem Niveau verfestigt», schreibt der Schweizerisch-Israelitische Gemeindebund. Er fordert wie in den Jahren zuvor «griffige Massnahmen» – jetzt noch dringlicher.

Editiert von Benjamin von Wyl

illustration: Antisemitismus

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