In Genf bestimmt eine Rosskastanie, ab wann es Frühling ist
Die Genfer Botanik hat tiefe Wurzeln und lebt noch heute in einer ungewöhnlichen Tradition weiter: wenn ein kantonaler Beamter, der "Sautier", beobachtet, wie das erste Blatt einer Rosskastanie aufbricht und somit der Frühling beginnt.
In Genf beginnt der Frühling nicht am 20. oder 21. März, sondern mit dem «Marronnier officiel»Externer Link der Republik.
Diese Rosskastanie steht an der Promenade de la Treille am Rand der Altstadt vor dem offiziellen Gebäude der Regierung und des Kantonsparlaments.
Die Genfer BotanikExterner Link gilt als eine der lebendigen nationalen Traditionen. Ihre Ursprünge gehen auf das 18. und 19. Jahrhundert zurück, als in dieser Ecke der Schweiz ein naturwissenschaftlicher Geist herrschte.
Der «Sautier» der Republik
«Wir glauben, dass [die Pflanzenwelt] eine stille Welt ist, der es an Kommunikationsfähigkeit mangelt. Doch im Gegenteil: Die Pflanzen sind grosse Kommunikatoren», schreibt Stefano Mancuso in seinem Buch «Die unglaubliche Reise der Pflanzen».
Der italienische Botaniker und Essayist würde sich sicher freuen zu erfahren, dass es in Genf eine Person gibt, deren Aufgabe unter anderem darin besteht, als Dolmetscher zu fungieren.
Es ist der «Sautier» der Republik. Ursprünglich war er eine Art Förster, der dafür sorgte, dass sich die Bevölkerung ihre Holzvorräte nicht mit Raubzügen besorgte.
Später wurde er Chef der Stadtwache. Heute ist das Amt des «Sautiers» mit dem des Generalsekretärs des Kantonsparlaments identisch.
Der «Sautier» bereitet die Sitzungen des Grossen Rats vor, stellt die Traktandenliste auf, protokolliert die gefassten Beschlüsse, sorgt für das gute Funktionieren der parlamentarischen Kommissionen – und überwacht eine Rosskastanie.
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Auf der offiziellen Website des Kantons ist zu lesen: «Die Tradition verlangt vom Sautier, die offizielle Genfer Rosskastanie zu beobachten, um den Austrieb des ersten Blatts festzustellen, das den Beginn des Frühlings ankündigt.»
«Wenn ich mit Leuten über meine Funktion spreche, wissen sie wenig über meine tägliche Arbeit, aber sie wissen, dass ich derjenige bin, der den Frühling ankündigt», erzählt Laurent Koelliker, der aktuelle «Sautier», der 2017 seine erste offizielle Beobachtung gemacht hat.
Die verrückte Rosskastanie
Diese Aufgabe erfüllt Koelliker mit Akribie und Professionalität, wie seine Antwort zeigt, als wir ihn fragen, was diese Arbeit eigentlich beinhaltet: Wenn das Wetter nicht mehr so streng sei, meist im Februar, «gehe ich dorthin und beobachte», erzählt er.
«Zwei Dinge helfen mir dabei. Wenn die Temperatur hoch genug ist, um den Saft wieder in den Stamm und die Äste fliessen zu lassen, kann man sehen, dass die Triebe beginnen, ihn aufzunehmen und in der Sonne glänzen. Das ist ein Zeichen dafür, dass der Baum seinen Jahreszyklus wieder aufnimmt und die Triebspitzen in den nächsten Tagen grün werden.»
Von da an dauere es mindestens zehn Tage, bis das erste Blatt erscheine.
Das zweite Element, das ihm hilft, ist eine andere Rosskastanie, die nicht weit von der offiziellen Kastanie entfernt ist und die 1968 von einem Genfer Gärtner gepflanzt wurde.
Sie trägt den Spitznamen «Marronier fou» (verrückte Rosskastanie) und hat den Vorteil, dass sie drei Wochen früher austreibt als die anderen, was dem «Sautier» einen zeitlichen Anhaltspunkt gibt.
Diese Strategien lernte Koelliker von seiner Vorgängerin, der «Sautière» Maria Anna Hutter, die ihrerseits die Mitarbeitenden des Botanischen Gartens um Rat gefragt hatte, wie sie ihre Beobachtungen am besten durchführen solle.
«Ich werde auch von meiner Stellvertreterin begleitet, denn es geht darum, die gleichen Kriterien anzuwenden und eine gewisse Kontinuität in der Qualität der Beobachtungen zu gewährleisten», sagt Koelliker.
Nicht nur Tradition
Kontinuität ist ein Schlüsselwort: Seit 1818 notiert der «Sautier» das Datum, an dem das erste Blatt erschienen ist, ausnahmslos auf einem Pergament, das auch heute noch verwendet wird und auf dem noch Platz für einige Jahre ist.
Bis heute waren 15 «Sautiers» im Amt, welche die bisher vier offiziellen Rosskastanien betreuten. Wenn sich einer dieser Bäume dem Ende seines Lebens nähert und sein Jahreszyklus unregelmässig wird, bestimmt der «Sautier» einen anderen Baum in der Nähe mit ähnlichen Eigenschaften. Der aktuelle Baum ist seit 2016 «im Amt».
Der erste Beobachter, Théodore-Marc Paul, hätte sich wahrscheinlich nicht träumen lassen, dass sich die 1818 von ihm ins Leben gerufene Tradition als nützliches Instrument zur Untersuchung der Auswirkungen von Klimawandel und Urbanisierung erweisen würde.
Tatsächlich hat sich die Öffnung des ersten Blatts nach und nach vom April auf den Februar verlagert, mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen. 2003 begann der Genfer Frühling beispielsweise bereits am 29. Dezember 2002!
«Es handelt sich dabei um eine der wenigen heute noch existierenden botanischen Beobachtungsreihen, die einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrhunderten abdecken», sagt Koelliker.
«Es ist wichtig, diese Datenbank weiter zu pflegen, um die Entwicklung der Umwelt, des Klimas und der Urbanisierung der Stadt zu erforschen.»
Für den «Sautier» gibt es aber noch einen anderen, nicht minder wichtigen Aspekt, der ihn diese ungewöhnliche Aufgabe schätzen lässt.
«Die Menschen freuen sich, wenn der Frühling angekündigt wird, denn das bedeutet, dass die Strapazen des Winters hinter uns liegen. Meine Aufgabe ist es, gute Nachrichten zu überbringen.»
Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub
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