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Kostenloser öffentlicher Verkehr? In Genf ein Erfolg

Zwei blau-weisse Trams
Abonnemente werden direkt vom Kanton bezahlt. Das freut die Verkehrsbetriebe. Keystone / Martial Trezzini

Junge Menschen unter 25, die in Ausbildung sind oder wenig verdienen, zahlen in Genfer Verkehrsmitteln nichts mehr, Pensionierte nur die Hälfte. Die Reaktionen sind begeistert. Ein Experte sagt: "Man will junge Menschen zur Nutzung animieren."

Einige europäische Städte und das Fürstentum Luxemburg haben den kostenlosen öffentlichen Verkehr bereits eingeführt. In der Schweiz ist er da und dort im Gespräch.

In Genf gilt seit dem 1. Januar, dass Jugendliche unter 25 Jahren, die sich in Ausbildung befinden oder nur über ein geringes Einkommen verfügen, ein Gratis-Abonnement für die öffentlichen Verkehrsmittel erhalten können. Für Seniorinnen und Senioren kostet das Abonnement nur noch die Hälfte des vollen Preises.

Diese Massnahme löste eine politische Debatte aus. Sie stiess aber bereits in den ersten Wochen auf grosse Zustimmung in der Bevölkerung, wie der italienischsprachige Sender RSI festgestellt hat.

RSI besuchte auch die Schalter der Genfer Verkehrsbetriebe, wo sich seit Anfang des Monats Schlangen vor dem Eingang gebildet haben und man in den ersten Tagen des neuen Angebots bis zu 45 Minuten warten musste.

Wer dort arbeitet, muss zunächst prüfen, ob die Wartenden über die notwendigen Dokumente verfügen. Eine Wohnsitzbescheinigung, der Nachweis einer laufenden Ausbildung oder eines geringen Einkommens: Das sind die Voraussetzungen, die – neben dem Alter unter 25 Jahren – zum kostenlosen Abonnement berechtigen.

«Es handelt sich nicht um eine Gratisbeförderung, sondern um ein Angebot», sagt Rémy Burri, Direktor des Genfer Tarifverbunds, gegenüber RSI.

Die Abonnemente werden zwar bezahlt, aber direkt vom Kanton Genf, sehr zur Freude der Verkehrsbetriebe, die sich über aussergewöhnliche Verkaufsergebnisse freuen.

«Das ist eine gute Idee», sagt ein 20-jähriger Handelsschüler gegenüber RSI. Jungen Menschen fehle es oft an finanziellen Mitteln. So sei er bisher mit dem Fahrrad oder ohne Ticket mit dem Bus zur Schule gefahren, immer darauf bedacht, nicht in einer Kontrolle erwischt zu werden, gibt er zu.

Aber auch die Seniorinnen und Senioren, für die sich der Preis des Abonnements halbiert hat, haben etwas zu feiern. Mit dem neuen Abo spare er 200 Franken, sagt ein älterer Mann gegenüber RSI. Das sei sehr nützlich, da er oft mit dem Bus fahre.

Andere holen sich ein Abonnement, weil es nichts kostet. «Ich nehme das vom Kanton angebotene Abonnement für meine sechsjährige Tochter. Ich fahre selten mit dem öffentlichen Verkehr, aber so kann ich ab und zu diese drei Franken sparen», sagt eine Person gegenüber RSI.

Stattdessen übernimmt der Kanton Genf die Kosten von 400 Franken für das Kind. Dank der ausserordentlichen Steuereinnahmen der letzten Jahre scheint sich Genf dies leisten zu können.

«Der Kanton hat bisher 32 Millionen Franken für dieses Angebot budgetiert. Das entspricht unseren Schätzungen. Wenn sich der Erfolg bestätigt, könnten wir am Ende 40 bis 45 Millionen einnehmen», betont Rémy Burri.

Aber können die Genfer Verkehrsbetriebe, die schon jetzt zu Spitzenzeiten überlastet sind, alle neuen Abonnementsinhaberinnen und -inhaber befördern?

«Die an der Tarifgemeinschaft beteiligten Unternehmen planen, ihr Angebot zu erhöhen. Die Eisenbahn hat dies bereits im Dezember getan, und auch die Trams und Busse werden bis Ende des Jahres aufgestockt. Wir hoffen also, angemessen auf diese Begeisterung reagieren zu können», sagt der Direktor des Genfer Tarifverbunds.

Das sagt Experte Sébastien Munafò, Verkehrssoziologe

RSI: Warum wird so viel über den kostenlosen öffentlichen Verkehr gesprochen, aber nur selten wird er auch nur teilweise eingeführt?

Sébastien Munafò: In der Schweiz ist die Mobilität sehr hoch. Die Idee, die Preise für den öffentlichen Verkehr zu senken, findet viel Unterstützung.

Aber man merkt schnell, dass es nicht nur aus verfassungsrechtlicher Sicht kompliziert ist. Das Bundesgericht hat dazu ein Urteil gefällt. Es ist zudem auch sehr teuer für die Allgemeinheit.

Genf verfügt über grosse Finanzüberschüsse und will damit die Kaufkraft der Bevölkerung stärken. Es gibt Schlangen an den Schaltern, weil das Abonnement kostenlos ist. Aber nicht alle scheinen wirklich daran interessiert zu sein, es auch zu nutzen…

In jenen Städten, die das Gratisabonnement bereits eingeführt haben, hat man festgestellt, dass die neuen Nutzenden vor allem jene sind, die früher zu Fuss oder mit dem Fahrrad unterwegs waren. Oder ältere Personen, die häufiger fahren.

Ziel des Kantons ist es nicht, Autofahrende für den öffentlichen Nahverkehr zu gewinnen, sondern junge Menschen an die ÖV-Nutzung zu gewöhnen. Eine Gewohnheit, die auch im Erwachsenenalter erhalten bleiben soll.

Es ist nicht das erste Mal, dass Genf die Fahrpreise drastisch senkt. Im Jahr 2014 wurde das Jahresabonnement nach einer Abstimmung von 800 auf 500 Franken gesenkt. Welche Lehren wurden daraus gezogen?

Interessanterweise gab es in diesem Fall keinen Anstieg der Fahrgastzahlen, aber einen grossen finanziellen Verlust für die Verkehrsbetriebe.

Wir haben also in Genf die konkrete Erfahrung gemacht, dass der Preis nicht der wichtigste Faktor ist, um neue Kundschaft zu gewinnen. Entscheidend sind vielmehr die Qualität der Dienstleistung und die Ausdehnung des Streckennetzes.

Besteht mit dieser teilweisen Abgeltung nicht die Gefahr einer Überlastung des Genfer Verkehrssystems?

Das stimmt. Und das ist in Genf ein Thema, denn das öffentliche Verkehrsnetz wird von der Bevölkerung als mehr oder weniger angemessen empfunden.

Aber ein negativer Aspekt, der oft erwähnt wird, ist die Unbequemlichkeit. Diese ist nicht auf die Fahrzeuge zurückzuführen, die sehr modern und gut ausgerüstet sind, sondern auf die Überlastung gewisser Linien zu gewissen Tageszeiten.

Es stimmt also, dass wir durch die Anwerbung neuer Fahrgäste das Risiko eingehen, die Unannehmlichkeiten zu erhöhen. Dieser Aspekt muss überwacht werden.

Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub

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