Morins: Ein Symbol der Identität zwischen Tradition und Zeitgeist
Viel mehr als nur Ohrringe aus Gold und Email: Für viele Engadinerinnen und Engadiner sind Morins ein geschätztes Kulturerbe, das noch heute von Mutter zu Tochter weitergegeben wird. Der Kopf eines dunkelhäutigen Manns, der Morins, ist quasi ihr Engadin «zum Anhängen».
Die Engadiner Tradition, über die in erster Linie im Buch von Dolf Kaiser über die Bündner Konditoren* zu lesen ist, besagt, dass die Liebe der Engadinerinnen und Engadiner zu den Morins in Venedig begann.
Im 17. und 18. Jahrhundert waren viele Bündnerinnen und Bündner dorthin ausgewandert, um ihr tägliches Brot zu verdienen – sei es durch ihre berühmteste Arbeit in Konditoreien, aber auch in der Schuhmacherei oder in anderen Berufen.
1766 war jedoch die Zeit gekommen, in der man in der Lagunenstadt genug hatte von den Bündnerinnen und Bündnern und deren politischen Errungenschaften, aber auch von ihrer wirtschaftlichen Macht.
Mit einem Dekret nahm Venedig den Bündnern Bündnerinnen auf einen Schlag ihre wirtschaftlichen Privilegien und damit ihre Existenzgrundlage und verdrängte sie binnen weniger Monate.
>> Ein Film der Sendung «Cuntrasts» von Radiotelevisiun Svizra Rumantscha geht der Herkunft der Morins auf den Grund (Untertitel auf Deutsch):
Schon früh ein Identitätsmerkmal
Aus Venedig seien die Ohrringe geblieben, eben die Morins. Diese Morins seien als Identitätszeichen unter all jenen getragen worden, die aus Venedig vertrieben worden waren und sich danach in ganz Europa verstreut hatten.
Wenn eine Frau mit Morins auf die andere traf, sei das wie ein geheimes Signal gewesen, auch wenn sie sich nicht kannten.
Bei der Frage, wie die Morins im Unterengadin und vor allem in Sent Teil des kulturellen Erbes wurden – man sprach auch von den «Morins aus Sent» –, verlieren sich jedoch die Spuren in der Geschichte.
Ein venezianisches Erbe – oder doch nicht?
Wahrscheinlich ist es simpel – und der exotische Ohrring einfach ein Souvenir der Menschen bei ihrer Heimkehr. Es wird wie heute gewesen sein – besondere Souvenirs sind immer willkommen.
Die Morins waren das ideale Geschenk. Kostbar und nie zuvor gesehen, klein und gut transportierbar und typisch venezianisch, wird oft gesagt.
Doch – typisch venezianisch? Nein, nicht ganz. Eine Bildersuche im Netz bestätigt, was die eine oder andere Engadinerin auch schon weiss: Der Morin aus Sent hat einen näheren Verwandten, fast einen Zwilling, im Kroatischen: den Morcic, im Italienischen den Moretto Fiumano.
Dieser Morin war im 19. und 20. Jahrhundert ein Verkaufsschlager der heutigen kroatischen Stadt Rijeka, auf Italienisch Fiume genannt.
Der Moretto war ein liebgewonnenes Identitätssymbol und ist es auch heute noch. Er wurde in den 2000er-Jahren als Symbol der Stadt gewählt und kommt beim Karneval und im Tourismusamt vor.
Wo sich Engadiner und kroatische Geschichte überschneiden
Klar ist, dass Fiume auch ein Ort war, an dem viele Ausgewanderte aus dem Engadin für ihr Berufsleben landeten. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es in Rijeka nicht nur viele Cafés in Engadiner und Bündner Hand, sondern auch eine Sektion der Union degli Grischs.
Und in der Geschichte einer der bekanntesten Morins-Manufakturen, der Firma Gigante, wird beschrieben, dass neben ihrer Produktionsstätte verschiedene Cafés standen.
Wahrscheinlich haben sich dort die Wege der Ausgewanderten und der Moretti Fiumani gekreuzt. Bewiesen ist jedoch nichts.
Vergleicht man die Morins von Rijeka aber mit jenen von Sent, scheinen die gemeinsamen Wurzeln jedoch eher dort zu liegen als bei den weltlicheren Morins venezianischer Art.
Identitätssymbol zwischen Tradition und Zeitgeist
Die Morins von Sent haben also mit dem Morcic vermutlich ihren Zwilling gefunden. Er ist in Kroatien, in Rijeka, aber wenig bekannt.
In den Bergen wie am Meer gehören sie zum kulturellen Erbe und galten oder gelten immer noch als Identitätssymbol. An beiden Orten scheinen die Morins oder Morettis jedoch quer zum Zeitgeist zu stehen.
*Das Buch: Dolf Kaiser «Fast ein Volk von Zuckerbäckern? – Bündner Konditoren, Cafetiers und Hoteliers in europäischen Landen bis zum Ersten Weltkrieg»
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