Neues Wahlrecht aus Frankreich lässt in Neukaledonien alte Konflikte auflodern
Der Linguist Jean Rohleder musste wegen der aktuellen Situation seine Arbeit in Neukaledonien unterbrechen. Er erklärt, wieso es zu gewaltsamen Aufständen kam.
Jean Rohleder, Sprachwissenschaftler der Universität Bern, war schon unterwegs nach Neukaledonien, als die Proteste ausbrachen. Rohleder wollte nach Neukaledonien zurück, er hatte schon gut ein Jahr dort verbracht, um die indigene Sprache einer Volksgruppe zu studieren. Weil der Flughafen in Nouméa, der Hauptstadt des Inselstaats, aber gesperrt wurde, wich er in die australische Hauptstadt Canberra aus. Dort konnte er kurzfristig an einer Uni unterkommen.
Was ist da los auf dieser südpazifischen Tropeninsel jenseits Australiens? Immerhin musste im Mai gar der französische Präsident Emmanuel Macron zu diesem Brandherd eilen. 16’000 Kilometer Reise hat er im Mai auf sich genommen, um 24 StundenExterner Link in Neukaledonien zu verbringen. Auslöser für die Reise waren gewaltsame Proteste rund um die Hauptstadt Nouméa.
Dr. Jean Rohleder ist bis Ende 2025 mit einem SNF-Stipendium als Post-Doktorand am LACITOExterner Link, einem Forschungsinstitut des Centre Nationale de la Recherche Scientifique in Paris tätig. Er erforscht Nemi und Paicî, zwei Sprachen, die im Norden von Neukaledonien gesprochen werden. «Über Nemi und Paicî gibt es viele Texte, aber um Detailfragen zu klären, ist Feldforschung mit Interviews vor Ort unabdingbar“, sagt er.
Neukaledonien gehört zu Frankreich ist der Grande Nation wichtig: Die Lage ist geopolitisch und militärisch vorteilhaft, zudem hat der Inselstaat reiche Nickelvorkommen. Nun versperrten Barrikaden die Strassen. Wütende Leute zündeten Autos an und plünderten Läden. Der Staat versuchte die Kontrolle zurückzugewinnen, für zwölf Tage galt ein Ausnahmezustand. Macrons Besuch konnte die Lage nicht beruhigen, die Krawalle dauern bis heute an und haben das Leben von neun Personen gefordertExterner Link.
Dieses Geschehen in seiner eigentlichen Zieldestination verfolgt der Schweizer Linguist Jean Rohleder unter anderem über die öffentlich-rechtliche Newsplattform La 1ère Nouvelle CalédonieExterner Link. Er sieht Bilder von Strassenbarrikaden, ausgebrannten Ladenlokalen. Er liest Überschriften wie «Crise en Nouvelle-Calédonie».
Doch für Rohleder erzählt das nicht die ganze Geschichte. «Sie stellen die Geschichte als einen Aufstand von besoffenen Jugendlichen dar», sagt er am Telefon aus Australien. «Ich habe bei La 1ère keinen Beitrag gesehen, der sich mit den tatsächlichen Hintergründen auseinandergesetzt hat.»
Indigene gegen Wahlrecht für alle
Auslöser für die gewaltsamen Proteste in Neukaledonien ist eine Gesetzesreform aus Frankreich. Neu sollen alle Menschen, die seit zehn Jahren im Land leben, das Wahlrecht haben. Was nach einer demokratischen Selbstverständlichkeit klingt, hat die indigene Bevölkerung – die Kanaken und Kanakinnen – in Aufruhr versetzt.
Sie befürchten, noch mehr zur Minderheit zu werden als sie jetzt schon sind. Momentan können nur jene Personen im Land abstimmen, die zwischen 1988 und 1998 schon dort gewohnt haben. Die Nachkommen dieser Gruppe sind ebenfalls stimmberechtigt.
Wahlrecht ist Teil des Friedenspakts
«Diese Regel zum Wahlgesetz ist Teil der Abmachung, die nach den Unabhängigkeitskämpfen 1989 den Frieden im Land möglich gemacht hat”, sagt Rohleder. So sei es in der Verfassung von Neukaledonien eingetragen, und nun seien viele Kaledonier:innen schockiert, dass das einseitig von Frankreich geändert werden sollte.
Dass momentan nicht alle Einwohner:innen das gleiche Wahlrecht haben, verletzt die demokratischen Prinzipien der EU. Doch die Kanak:innen wollen keine Fraternité, Egalité, Liberté. «Sie haben Angst, dass sie zu gewöhnlichen Franzosen und Französinnen werden», sagt Rohleder.
Mehr
Alles zum Thema «Auslandschweizer:innen»
Spezielle Rechte
Momentan haben sie noch spezielle Rechte. So kann das «terre coutumière» – Land, das sich aus Reservaten und Landrückerstattungen zusammensetzt – weder verkauft noch verschenkt werden. Es gehört den Clans gemeinschaftlich, die dort uneingeschränkt bauen und ein traditionelles Leben führen können.
Doch zahlenmässig sind sie in der Minderheit. 40% der Bevölkerung von Neukaledonien sind ethnische Kanak:innen. «Sie haben nichts dagegen, dass neue Leute kommen», sagt Rohleder. «Aber sie verlangen Regeln.» Ihr Problem seien französische Grossgrundbesitzer:innen, die mit hohen Wasserverbrauch die Versorgung anderer gefährden, mit ihren grossen Rinderherden den Boden zerstörten und die Chancen der Kanak:innen auf dem Job- und Wohnungsmarkt verschlechtern würden.
Sowie Franzosen und Französinnen, die wegen der Wärme und Tauchabenteuern nach Neukaledonien ziehen, die Hauptstadt kaum verlassen und sich nicht mit der Kultur der Calédoniens auseinandersetzen.
Doch die Stimmung in Neukaledonien ist nicht nur wegen der Reform gekippt. Sie war der Funke, der die Wut der Kanak:innen entzündete. Schon dreimal hat der Inselstaat über die Unabhängigkeit von Frankreich abgestimmt – via Referendum, das die Kanak:innen erkämpft hatten. Zweimal hatte das Referendum keine Mehrheit erreicht.
Am dritten Termin im Dezember 2021 gewannen die Loyalist:innen haushoch; die Separatist:innen hatten die Abstimmung boykottiert. Die indigene Bevölkerung hatte während der Coronapandemie viele Tote zu beklagen und dazu gedrängt, den Termin in ihrer Trauerphase zu verschieben. Frankreich hielt jedoch daran fest.
Unabhängigkeitskämpfe in den 1980er-Jahren
Schon vor diesen Referenden kam es in Neukaledonien regelmässig zu Gewalt, wenn sich die indigene Bevölkerung gegen Alltagsrassismus, Ausbeutung und Landraub wehrte. «In den 1980er-Jahren haben die Kanak:innen viel erreicht», sagt Jean Rohleder. Auch damals haben sie Barrikaden erstellt und die Gendarmerie angegriffen und mit Erfolg für ihre Rechte gekämpft. «Es wurde jedoch auch ständig verhandelt, Gewalt war nicht die erste Lösung.»
Deshalb falle es heute den meisten älteren Kanak:innen schwer, die Randale zu verurteilen, auch wenn sie selbst keine Gewalt anwenden würden. So wie die meisten Menschen in Neukaledonien. Die “brandschatzenden Horden” seien eine sehr kleine Gruppe, wie eine Korrespondentin berichtetExterner Link.
Diese sei hauptsächlich um die Hauptstadt Nouméa aktiv. Dort hätten viele Jugendliche auf eine Gelegenheit gefiebert, um sich beweisen zu können, sagt Rohleder. So wie die Kanak:innen vor ihnen in den Kämpfen um die Unabhängigkeit der 1980er-Jahre und während der Revolten von 1878 und 1917. Die jungen Kanak:innen haben Macheten, können schiessen und sind gut organisiert.
Und sie sind wütend auf den Staat Frankreich, der tausende Indigene getötet hat und ihnen bis 1952 das Wahlrecht und bis 1957 das Schulrecht vorenthalten hat. Auch heute spüren sie den Unterschied zwischen Indigenen und weissen Siedler:innen: “Obwohl sie französische Bürger:innen sind, haben sie nicht die gleichen Aufstiegschancen wie diejenigen, die in weissen Familien aufgewachsen sind.”
So werde in ärmeren Vierteln gespart, Jugendtreffs und ähnliche Institutionen werden geschlossen. Um Nouméa gibt es Slumviertel, wo hauptsächlich Kanak:innen wohnen, offener Rassismus sei an der Tagesordnung, sagt Rohleder.
Verlust der indigenen Kultur
Während des Ausnahmezustands haben die Behörden den Zugang zum sozialen Netzwerk Tiktok gesperrt. Der Kanal fehlte, doch der indigenen Bevölkerung bleiben immer noch 28 Sprachen, in denen sie sich zensurfrei verständigen können. Aber je länger der Inselstaat Teil von Frankreich ist, desto mehr sind diese mit der indigenen Kultur vom Aussterben bedroht, was bei den Menschen ein Gefühl der Ohnmacht und des fortschreitenden Verlusts auslöst.
Mehrheit der Bevölkerung gegen Gewalt
2016 ist Rohleder zum ersten Mal nach Neukaledonien gereist. Dort hat er in Dörfern an der Nordostküste gewohnt und die Lebensweise der ländlichen Bevölkerung kennengelernt, während er die Sprache der indigenen Gruppe der Vamale dokumentiert hat. Via Facebook und Whatsapp ist er auch heute mit Freund:innen und der ehemaligen Gastfamilie in Kontakt.
Lesen Sie hier mehr darüber:
Mehr
Wie man eine Sprache (nicht) rettet
Die Barrikaden seien für die meisten Kanak:innen auch spürbar gewesen. Weniger Benzin, Tabak oder Gas steht zum Kochen zur Verfügung. In den Dörfern versorgen sich die Leute selbst aus ihren Gärten und fischen. Sorgen bereitet die Versorgung von Medikamenten wie zum Beispiel Insulin.
Wie überall im Südpazifik ist auch in Neukaledonien die Diabetesrate hoch. Die Mehrheit der ländlich wohnenden Bevölkerung ist nicht an einem gewaltsamen Konflikt interessiert. «Meine Kontakte sagen, sie bleiben friedlich, solange diskutiert wird.» Die Urbevölkerung sei offen für ein erneutes Referendum.
Neukaledonien ist viertgrösster Nickelproduzent der Welt
Im Hinblick auf eine Ablösung von Frankreich werden die Nickelminen zum Thema. Neukaledonien ist der viertgrösste Nickelproduzent der Welt, doch die Preise für das Metall sind gesunken und die Konkurrenz aus Indonesien bedroht die lokalen Produzenten. Der Schweizer Rohstoffkonzern Glencore hat jüngst eine Mine in Neukaledonien abgestossenExterner Link.
In seiner Zeit in Neukaledonien hat der Sprachwissenschaftler die Kluft zwischen der weissen und der indigenen Bevölkerung selbst miterlebt, er ist auch schon bedroht worden. Für ihn ist dies der Ausdruck jahrzehntelanger Spannungen.
Umsetzung der Reform aufgeschoben
Da sich die Situation in Neukaledonien bis heute nicht beruhigt hat, hat sich Jean Rohleder entschieden, nicht nach Neukaledonien zu reisen. In Frankreich wird er am Institut arbeiten, das ihn auf die Mission in den Südpazifik geschickt hat, und es im Herbst nochmals versuchen.
Nach über einem Monat Krisensituation in Neukaledonien hat Emmanuel Macron verkündet, dass die Umsetzung der umstrittenen Reform aufgeschoben wirdExterner Link. Eine Inkraftsetzung des Gesetzes ist momentan sowieso nicht realistisch, weil am 7. Juli 16’000 Kilometer von Nouméa entfernt das französische Parlament neu gewählt wurde.
Editiert von Balz Rigendinger
Mehr
Newsletter
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch