Schweizer Bischof in Ecuador: «Mein Schutz sind Kragen und Kreuz»
Antonio Crameri träumte davon, Missionar in Afrika zu werden. Doch das Schicksal wollte, dass er als Bischof im ecuadorianischen Esmeraldas zum Hoffnungsträger einer von Drogenbaronen zerrütteten Kirche wurde.
Wenn ich an einen Bischof denke, fallen mir die Porträts im Rittersaal vor dem Bischofpalais der Diözese Chur ein. Sie schauen uns an mit strengen Gesichtern, mit zu engen Kragen, in violetten Umhängen und mit einem schweren Kreuz auf der Brust.
Wenn ich aber an Bischof Antonio Crameri denke, nachdem ich ihn am Telefon interviewt habe, dann sehe ich ihn vor mir, wie er barfuss, in Shorts und T-Shirt, im Morgengrauen in Esmeraldas, Ecuador, am Strand entlangläuft.
In der Hand hält er den Rosenkranz, dessen Perlen er durch seine Finger gleiten lässt. Dazu spricht er seine Gebete. Er geniesst einen Moment der Ruhe, bevor sein Tag mit den unzähligen Verpflichtungen seines Amts beginnt.
«Frühmorgens trage ich keinen Kragen, nur das Kreuz», sagt er. «Es ist ein Moment des normalen Lebens, den ich mit normalen Menschen teilen möchte. Es mag seltsam klingen, aber ich habe keine Eskorte. Ich habe nicht vor, meine Freiheit aufzugeben.»
Bischof zu werden war nicht sein Plan
Antonio Crameri, 55 Jahre alt, in Locarno geboren und in Samedan im Engadin aufgewachsen, Sohn von Eltern aus dem Puschlav. Seit vier Jahren ist er Bischof in Ecuador – einer von acht Schweizer Bischöfen im AuslandExterner Link.
Zuerst war Crameri Weihbischof in Guayaquil. Seit dem 2. September 2021 ist er Apostolischer Vikar in Esmeraldas und verantwortlich für eine Pfarrei mit knapp 600’000 Menschen.
Von diesen leben 250’000 in städtischen Gebieten, während die Mehrheit in ländlichen und landwirtschaftlichen Regionen oder entlang der von Mangrovenwäldern geprägten Küste wohnt.
In seiner Diözese arbeiten rund 60 Priester in 29 Pfarreien. Das Vikariat unterhält 36 Schulen, ein Spital, ein Altersheim und zwei Pastoralzentren.
«Dass ich Bischof werde, war gar nicht geplant. Meine Ernennung war eine grosse Überraschung. Eigentlich schien meine kirchliche Laufbahn in einer Sackgasse zu enden», erzählt Crameri.
«2007 hatte ich anlässlich des Besuchs des Apostolischen Nuntius in Esmeraldas eine afro-ecuadorianische Messe organisiert, mit typisch afrikanischer Musik, Trommeln und Marimba. Am Ende der Feier rügte mich der Nuntius, er habe ‹die Besinnlichkeit und Stille der europäischen Messen› vermisst.»
Als Crameri mit 13 Jahren in das Haus der Göttlichen Vorsehung Cottolengo in Turin eintrat, hegte er den Traum, Missionar in Afrika zu werden.
«Ich war fasziniert von den Erzählungen meiner beiden Onkel Don Giusto und Don Fiorenzo, Missionare in Kenia, die alle drei Jahre ins Puschlav zurückkehrten», erinnert sich der Monsignore.
«Ich wusste nicht, was es bedeutet, Missionspriester zu sein, und hatte auch keine klare Vorstellung von einer priesterlichen Berufung.»
Nach seiner Priesterweihe 1996 musste er mehr als fünf Jahre warten, bis sein Traum in Erfüllung ging. Doch es ging nicht nach Afrika, sondern nach Ecuador. «Am 1. November 2001 bin ich in Quito gelandet und am nächsten Tag nach sechs Stunden Fahrt auf holprigen Strassen in Esmeraldas angekommen», erzählt der Bischof.
«Hier fand ich zu meiner Überraschung Afrika auf einem anderen Kontinent wieder, denn es gab viele Afro-Ecuadorianerinnen und Ecuadorianer, Nachfahren afrikanischer Sklavinnen und Sklaven.»
«Es war wie ein Sprung ins kalte Wasser: Ich kannte weder die Sprache noch die Kultur und vermisste die Stille der ruhigen Schweiz. Schon in den frühen Morgenstunden weckte das Geschrei der Strassenverkäufer die Stadt.»
«Ich habe dem Mörder in die Augen gesehen»
Nach dem ersten Schock entdeckte der damals 22-jährige Priester die Freundlichkeit, die Herzlichkeit, die Gastfreundschaft und die Lebensfreude einer Gemeinschaft, die das Leben Tag für Tag annimmt, ohne sich allzu viele Gedanken über das Morgen zu machen.
In Esmeraldas, einer Provinz am Pazifik, die im Norden an Kolumbien grenzt, traf er aber auch auf eine harte Realität, die von Armut und Kriminalität geprägt ist.
«Die Gesetzlosigkeit ist Teil der Normalität. Wie oft bin ich schon in Schiessereien zwischen rivalisierenden Banden aus verschiedenen Vierteln geraten?»
Bischof Antonio Crameri
Die Infrastruktur ist marode, und der Alltag wird durch das organisierte Verbrechen gestört, das Drogen, Waffen und Menschen über die Grenze schmuggelt.
«Die Gesetzlosigkeit ist Teil der Normalität», sagt Crameri und fügt hinzu, dass er nur selten seinen weissen Kragen und das Kreuz auf der Brust ablegt, zwei Symbole, die ihn mehr als einmal geschützt haben.
«Wie oft bin ich schon in Schiessereien zwischen rivalisierenden Banden aus verschiedenen Vierteln geraten? Doch in den letzten zwei, drei Jahren hat sich die Situation durch die Präsenz internationaler krimineller Organisationen wie dem mexikanischen Sinaloa-Kartell deutlich verschlechtert.»
Sie beschränken sich nicht mehr auf die Ermordung von Mitgliedern anderer krimineller Banden. Die Killer filmen jetzt die Hinrichtungen, um sie live in sozialen Netzwerken zu verbreiten.
«Sie üben Psychoterror aus. Sie zerstückeln die Opfer sogar, indem sie Teile der Leichen an Überführungen aufhängen oder abgetrennte Köpfe auf Plätzen oder vor Polizeigebäuden zur Schau stellen», sagt Monsignore Crameri.
Er erinnert sich an einen Vorfall, den er vor einem Jahr erlebte: «Es war an einem Gründonnerstag. Als ich von der Messe nach Hause fuhr, hörte ich etwa 800 Meter von der Kathedrale entfernt Gewehrschüsse. Ich hielt an, um zu sehen, was los war. Ich sah, wie Menschen versuchten, sich in ihren Häusern in Sicherheit zu bringen.»
«Als ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Strasse richtete, habe ich dem Mörder in die Augen gesehen. Es waren nur wenige Sekunden, aber es kam mir wie eine Ewigkeit vor», erzählt Crameri.
«Er hatte eine Pistole in der Hand, und ich erwartete, dass er sie auf mich richten würde, denn ich war Zeuge eines Mordes geworden. Die göttliche Vorsehung wollte, dass er sofort auf das Motorrad eines Komplizen stieg.»
Nachdem der Bischof der Gefahr entkommen war, fuhr er wieder an und sah am Strassenrand den leblosen Körper des jungen Mannes, der von einer rivalisierenden Bande erschossen worden war.
Warum Ecuador vom Transitland zum Kokainlabor wurde
Es sind Szenen der Alltagskriminalität, an die man sich nicht gewöhnen kann, auch wenn man seit fast 25 Jahren in Ecuador lebt. Das Land hat sich in den letzten vier Jahren zum Rückzuggebiet der Drogenmafia entwickelt.
In der Vergangenheit diente Ecuador hauptsächlich als Transitland für kolumbianische Kartelle, die Kokain von Peru oder Bolivien nach Kolumbien transportierten.
Der Entscheid der ecuadorianischen Regierung im Jahr 2000, den US-Dollar als Landeswährung einzuführen, um die Wirtschaft anzukurbeln, begünstigte die kriminellen Organisationen. Denn mit der Währung des grössten Kokainmarkts der Welt, den Vereinigten Staaten, operieren zu können, erleichtert das Reinwaschen von Drogengeldern.
«Infolgedessen sind in Ecuador, vor allem an der Küste, unzählige Labors für die Herstellung des weissen Pulvers entstanden», sagt der Bischof von Esmeraldas.
«Man schätzt, dass 22 rivalisierende Banden um diesen sehr lukrativen Handel konkurrieren und der Bevölkerung und den Händlern die Hölle heiss machen. Denn diese werden nun gezwungen, Schutzgelder zu bezahlen.»
Monsignore Crameri versucht die harte Realität der Strasse in seiner Küche zu vergessen, wo er die Aromen seiner Heimat sucht. Aus dem Puschlav bringt er jeweils hausgemachte Salami oder Pizzoccheri mit. Kürzlich hat er das italienische Fasnachtsgebäck Chiacchiere zubereitet, im Puschlaver-Dialekt «Taschet» genannt.
In den Ferien, die er am liebsten in der Schweiz bei Verwandten verbringt, findet er die ersehnte Ruhe. «Und wenn ich die Gelegenheit habe, ziehe ich meine Stiefel an und gehe auf die Suche nach Regenwürmern», sagt er am Ende eines langen Telefongesprächs.
«Fischen ist meine grosse Leidenschaft. Ich geniesse jeden Moment, den ich am Fluss Poschiavino verbringe.» Wenn Bischof Antonio Crameri dann nach Ecuador zurückgekehrt ist und am Strand von Esmeraldas spazieren geht, kehren seine Gedanken vielleicht zu jenen Gefühlen zurück, die er empfand, als er die Fischerrute in der Hand hielt.
Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub
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