Schweizer Brauch «Ubersitz»: Ein Tal im Ausnahmezustand
Gewaltig laut geht es zu und her Ende Jahr in den Dörfern um Meiringen herum im Berner Oberland. Die Bewohnerinnen und Bewohner des Haslitals begehen in der Altjahrswoche den uralten Brauch des Ubersitz.
Hinfort, ihr bösen Geister, verschwindet zurück ins Totenreich! Solche Geistervertreibungen sind in der Schweiz vielerorts verbreitet. Sie werden traditionell um die Wintersonnenwende herum begangen.
Im Haslital im östlichen Berner Oberland vertreiben die Menschen die bösen Geister mit Trommeln und Treicheln (Kuhglocken, auch Trycheln genannt).
Der Brauch namens Ubersitz (darf in der Region auf keinen Fall mit Ü ausgesprochen werden!) gilt als das bedeutendste Volksfest der Region. Dann trotzen die Menschen dort während mehreren Tagen und Nächten der Kälte und der Müdigkeit.
Obwohl ähnliche Bräuche wie das «Klausjagen» oder «Silvesterchlausen» in anderen Teilen der Schweiz existieren, ist die Kombination von Treicheln, Trommeln, Masken und der regionalen Gemeinschaft mehrerer Dörfer mit ausgeprägten Eigenheiten in dieser Form einzigartig.
Ein Publikumsmagnet
Der Ubersitz ist auch heute noch äusserst lebendig und wird von Generation zu Generation weitergegeben. Unterdessen ist der Brauch auch eine Attraktion nicht nur für die Touristinnen und Touristen, die im Winter vor allem wegen dem Wintersport ins Haslital pilgern.
Die Umzüge beginnen in der Altjahrswoche in der Nacht vom 25. auf den 26. Dezember und enden am zweitletzten Arbeitstag des Jahres, dieses Jahr also am 30. Dezember, mit dem eigentlichen Ubersitz. Bei dieser grossen Parade im Zentrum von Meiringen säumen jedes Jahr einige Tausend Menschen die Strassen.
Laut mehreren Quellen lassen sich solche Geistervertreibungen bis in vorchristliche Zeiten zurückverfolgen und basieren auf keltischen Traditionen um die Wintersonnenwende herum (meistens der 21. Dezember). Doch wie genau muss man sich diese Umzüge durch die Dörfer im Haslital vorstellen?
Jedes Dorf pflegt seine Eigenheiten
Der Brauch wird sehr unterschiedlich gepflegt. Er findet in sieben Dörfern oder Ortsteilen statt: Meiringen, Willigen, Hausen, Isenbolgen, Innertkirchen, Gadmen und Guttannen. Alle haben ihre individuellen Zugformationen und Instrumente.
Bevor sich alle zum Ubersitz im Hauptort Meiringen treffen, ziehen sie während einigen Tagen und Nächten lautstark durchs eigene Dorf. Dabei wird der Fokus auf die Nacht gelegt. Am Nachmittag wird geschlafen.
Einige Trychelzüge sind über 100 Personen stark. Jung und Alt dürfen mitlaufen. Wie etwa beim Bündner Brauch Chalandamarz müssen sie sich dabei aber an streng vorgeschriebene Regeln halten. Wer läuft an welcher Position im Zug, wer darf welche Glocke tragen, und so weiter.
Nicht alle Teilnehmenden maskieren oder verkleiden sich. Einige tragen beispielsweise den «Mutz», die traditionelle Trachtenweste, oder Zivilkleider. In vier Dörfern, darunter Meiringen, verkleiden sie sich als «Boozeni», als ältere, gepflegte Frauen. In anderen zum Teil als Hexen.
Jedes Dorf hat seinen eigenen Zug. Die Instrumente folgen einem genau vorgegebenen Rhythmus. «Dieser Rhythmus ist jedoch nicht mit einem Militärmarsch zu vergleichen», heisst es auf der Website von Haslital TourismusExterner Link, wo der Brauch detailliert beschrieben wird.
Der Rhythmus zwinge die Teilnehmenden in einen «langsamen Gleitschritt, während der Oberkörper rhythmisch die Glocke oder Trychel schwingt», heisst es weiter.
Der Ubersitz hebt sich laut Aussagen von Ansässigen auch durch seinen Fokus auf musikalische Harmonie zwischen Trommeln, Trycheln und Glocken von anderen traditionellen Umzügen in der Schweiz ab. In den einzelnen Zügen würden diese genau aufeinander abgestimmt, heisst es.
Wie tönt es am Ubersitz in Meiringen? Hier ein Video der Ausgabe 2022:
Besondere Figuren
Der Ubersitz kennt ein paar seltsame Gestalten, die bei anderen Schweizer Bräuchen nicht bekannt sind. So führt in einigen Dörfern das «Huttenwybli» den Trychelzug an. Es trägt seinen Ehemann in einer Hutte (Rückentragkorb).
Im Meiringer Ortsteil Isenbolgen laufen das «Wurzelmandli» und das «Wurzelfroueli» dem Zug voran. Von Jahr zu Jahr sind aber auch andere, neue Figuren am ohrenbetäubenden Umzug zu beobachten.
Allzu vorwitzige Zaungäste müssen sich am Ubersitz vor allem vor einer Figur in Acht nehmen: Zwischen den Zügen treiben weisse oder schwarze Versionen der besonderes skurrilen und in der Schweiz einmaligen Schnabelgeiss ihr Unwesen.
Wer sich zu nah an die in kleinen, gemächlichen Schritten durchmarschierenden Musikgruppen wagt, den zwickt die giraffenähnliche, mit Ziegenhörnern ausgestattete Schnabelgeiss mit ihrem Schnabel. «Oder sie stiehlt ihnen ihre Kopfbedeckungen», wie der Bericht von Haslital Tourismus festhält.
Eine eigene Zeitung
Ebenfalls einmalig ist, dass der Brauch von einer temporären Zeitung mit grosser Auflage begleitet wird, dem «Ubersitzler».
«In dieser Zeitung sind manch lustige Missgeschicke von Leuten beschrieben, Die Texte sind in ‹Haslidiitsch› geschrieben und anonym verfasst», wie die Zeitung «Frutigländer» 2020 schriebExterner Link.
Um diese Zeitung, die bereits seit der der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert existiert, ranken sich viele Gerüchte. Denn die absolute Anonymität der Autorinnen und Autoren ermöglicht ihnen, schonungslos über alle und alles zu schreiben, was in diesen Tagen im Haslital vor- und auffällt.
Einige «Geschädigte» hätten ihnen auch schon mit Anwälten und Prozessen gedroht, sagte das anonyme Komitee 2004 in einem Interview mit der Zeitung «Jungfrau-Hasler»Externer Link. Zu einem Prozess sei es aber noch nie gekommen.
Editiert von Balz Rigendinger
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch