Schweizer Richterinnen und Richter zahlen zwischen 2,5 und 3 Millionen Franken an ihre Partei
Gemäss einer Untersuchung der Sendung Temps Présent des Westschweizer Fernsehens RTS haben die Bundes- und Kantonsrichter:innen im Jahr 2023 "Mandatssteuern" in der Höhe von insgesamt rund 3 Millionen Franken an ihre Parteien gezahlt. Dieses System wird von den Richter:innen selbst stark kritisiert. Sie fordern seine Abschaffung.
Es handelt sich um eine Art uraltes Ritual, das im Schweizer Justizsystem einzigartig ist: Bundes- und Kantonsrichter:innen sind, mit wenigen Ausnahmen, verpflichtet, sogenannte «Mandatssteuern» an ihre Partei abzuliefern. Dabei handelt es sich manchmal um Pauschalen oder um Prozentsätze des Lohnes. Diese Steuer, die auf keiner gesetzlichen Grundlage basiert, wird als Beitrag der Richter:innen an die politischen Parteien verstanden, deren Mitglieder sie sind.
In der Schweiz ist die überwältigende Mehrheit der Richter:innen tatsächlich Mitglied einer Partei. Die Mitglieder des Bundes- und der Kantonsparlamente schlagen die Kandidat:innen für Richterstellen vor, wobei ein Verteilungsschlüssel berücksichtigt wird, der das politische Gewicht der Parteien widerspiegelt. Dieses Steuerungssystem wird weitgehend kritisiert, weil es den Verdacht aufwerfen kann, dass die Unabhängigkeit der Richter:innen gegenüber politischem Druck beeinträchtigt wird.
Mangel an Transparenz
Die genaue Höhe und die Zahlungsmodalitäten dieser Abgaben sind besonders in den Kantonen alles andere als transparent. Auf der Grundlage eines Fragebogens, der an alle lokalen Sektionen der wichtigsten politischen Parteien in den sieben Westschweizer Kantonen, einschliesslich des Kantons Bern, verschickt wurde, konnte die Sendung Temps Présent von RTS rekonstruieren, was die Richter:innen an ihre Parteien zahlen.
Insgesamt zahlen die Westschweizer Richter:innen zwischen 500’000 und 660’000 Franken, alle Parteien zusammen genommen. Die 19 Deutschschweizer Kantone und der Kanton Tessin wurden nicht befragt, aber basierend auf den Zahlungen der Westschweizer Richter:innen kann eine Spanne von etwa 1’300’000 bis 1’800’000 Franken für diese Kantone extrapoliert werden. Damit ergibt sich ein Gesamtbetrag von 1’800’000 bis 2’460’000 Franken für die kantonalen Beiträge.
Die SVP, die Partei, die am meisten von den Bundesrichter:innen erhält
Zu dieser Spanne müssen noch die Beiträge der 135 Bundesrichter:innen hinzugerechnet werden, die auf vier Bundesgerichte verteilt sind. Die Zahlen sind hier viel präziser, da seit diesem Jahr neue Regelungen zur Transparenz der politischen Finanzierung die politischen Parteien verpflichten, die von ihren Bundesrichter:innen gezahlten Beträge der Eidgenössischen Finanzkontrolle zu melden.
Im letzten September wurde diese Information in einem öffentlichen elektronischen Register veröffentlichtExterner Link, und die Summe der von den Bundesrichter:innen gezahlten Beträge belaufen sich auf 681’600 Franken. Die SVP mit ihren 32 Bundesrichter:innen führt mit 186’000 Franken, gefolgt von der SP (177’000 Franken), den Grünen (163’000 Franken), der Mitte und den Grünliberalen (jeweils etwa 64’000 Franken), während die FDP mit 27’500 Franken das Schlusslicht bildet.
Die Gesamtsumme der von den Bundes- und Kantonsrichter:innen an ihre politischen Parteien bezahlten «Mandatssteuern» liegt daher zwischen 2’481’000 Franken und 3’141’000 Franken.
Die Richter:innen kritisieren dieses System
In Interviews mit Temps Présent kritisieren die meisten Richter:innen dieses Steuersystem vehement. «Die Richter sind wirklich unabhängig», sagt Yves Donzallaz, Präsident des Bundesgerichts. «Aber dieses Bild, das vermittelt wird, indem man sagt ‹Du musst deine Kosten bezahlen, du willst Richter:in werden, also bezahlst du deine Kosten!›, ist äusserst negativ», meint er.
Auch der ehemalige Obergerichtspräsident des Kantons Zürich, Martin Burger, äussert sich kritisch: «Es mag unangenehm klingen, aber die Parteisteuer hat auch eine Schutzfunktion. Im Mafia-Jargon nennt man das ‹Pizzo›. Wer die Parteisteuer zahlt, wird auch bei Wahlen von der Partei unterstützt und in der Regel wiedergewählt. Wer nicht zahlt, na ja, da weiss man nicht genau, was passieren kann», veranschaulicht er.
Die Neuenburger Kantonsrichterin Marie-Pierre de Montmollin, die auch Präsidentin der Schweizerischen Vereinigung der Richter:innen (SVR) ist, befürchtet, dass Richter:innen verdächtigt werden könnten, für ihre Karriere zu zahlen: «Diese Beiträge haben keinen Einfluss auf die Entscheidungen, die wir treffen. Das sind zwei völlig verschiedene Dinge, das ist klar. Aber die Leute denken, wir bezahlen für unsere Stelle. Und das geht nicht, weil man sich fragt: Wer sind diese Leute, die bereit sind, Geld zu geben, um eine öffentliche Aufgabe zu bekommen? Das geht nicht.»
Eine kürzlich durchgeführte Umfrage des SVR unter seinen 1300 Mitgliedern (935 Antworten) zeigt, dass 83% der Befragten die Abschaffung dieser Steuer fordern. Auf internationaler Ebene kritisiert die Staatengruppe gegen Korruption (GRECO) regelmässig die Schweiz in dieser Angelegenheit. Diese Expert:innengruppe des Europarates, zu der auch die Schweiz gehört, erklärt in ihrem letzten Bericht, dass dieses Steuersystem ein echtes Korruptionsrisiko für die Schweizer Richter:innen darstellt.
Politiker:innen, die dafür sind, und andere, die dagegen sind
Einige Politiker:innen sind der Meinung, dass diese Beiträge der Richter:innen angesichts ihrer Gehälter das Mindeste seien: 170’000 Franken im Durchschnitt für eine:n Kantonsrichter:in, zwischen 220’000 und 360’000 Franken für eine:n Bundesrichter:in.
Manfred Bühler, Nationalrat und Anwalt der SVP, bezeichnet die Einschätzungen der GRECO als «grotesk». «Diese Beiträge an die Parteien sind auch ein falsches Problem, weil sie sowohl im Budget der Parteien als auch im Verhältnis zu den Einkommen der Richter:innen vernachlässigbar sind. Ich denke aber, dass es eine legitime Form der Anerkennung ist, die die Richter:innen alljährlich der Partei entgegenbringen, die sie unterstützt hat», sagt er.
Die Grünen, die bis zu 22’000 Franken pro gewählten Bundesrichter oder Bundesrichterin auf ihrer Liste erhalten, sind bereit, die Steuer abzuschaffen, sofern ein anderes System der Parteienfinanzierung gefunden wird, da die Grünen das Geld von Banken und Lobbygruppen ablehnen.
Gesetzentwurf zur Abschaffung blockiert in Genf
Besonders aufgebracht über diese Steuer ist der Genfer Ständerat Mauro Poggia, der zusammen mit seiner Partei Mouvement citoyens genevois MCG einen Gesetzesentwurf zur Abschaffung der von den Richter:innen geforderten Parteisteuer eingebracht hat. Der Entwurf liegt immer noch beim Genfer Grossen Rat und ist seit Monaten blockiert.
«Niemand will mehr Transparenz», kritisiert Mauro Poggia. «All diese Transparenzchampions, die ständig fordern, dass auf Verwaltungsebene alles offengelegt wird, sind jetzt alle abwesend. Links und rechts, es ist die Heilige Allianz des Schweigens», moniert der Abgeordnete.
Aber die Dinge ändern sich, wenn auch sehr langsam, insbesondere in der Westschweiz. Im Herbst 2020 hatten alle Richter:innen des Kantons Jura dem Kantonsparlament mitgeteilt, dass sie, um ihre richterliche Unabhängigkeit zu wahren, keine Mandatsbeiträge mehr an ihre Partei zahlen würden.
In Neuenburg fordert die Vereinigung der Neuenburger Richter:innen, dass die politischen Parteien aufhören sollten, Beiträge von Richter:innen und Staatsanwält:innen zu verlangen. Sie empfiehlt auch ihren Mitgliedern, keine obligatorischen Beiträge mehr zu entrichten.
Übertragung aus dem Französischen mit Hilfe von Deepl: Melanie Eichenberger / me
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