Schweizerin im Libanon: «Es herrscht die totale Verunsicherung»
Die Lage im Nahen Osten bleibt äusserst angespannt. Israel und die pro-iranische Miliz Hisbollah bekämpfen sich gegenseitig weiter. Wie erlebt eine Schweizerin, die im Libanon lebt, den Konflikt?
Nach fast einwöchiger Pause hat Israel am Mittwoch seine Angriffe auf Vororte der libanesischen Hauptstadt Beirut und den Süden des Landes wieder aufgenommen – trotz scharfer Kritik aus den USA. Es gab mindestens fünf Todesopfer, darunter der Bürgermeister einer Kleinstadt.
Die libanesische Hisbollah-Miliz ihrerseits schoss am Dienstag eine Salve von rund 20 Raketen auf den israelischen Norden ab. Über mögliche Opfer gab es zunächst keine Berichte.
Laut dem UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) steht etwa ein Viertel des Libanon unter israelischem Evakuierungsaufruf. Rund ein Fünftel der gut fünf Millionen Einwohnerinnen und Einwohner des Landes sei bereits vertrieben worden, so das UNHCR.
SWI swissinfo.ch konnte mit Maha Weber sprechen. Die frühpensionierte Auslandschweizerin lebt seit sechs Jahren im Libanon, nicht weit entfernt von der Hauptstadt Beirut.
SWI swissinfo.ch: Frau Weber, wie ist die Situation im Dorf, wo Sie leben?
Maha Weber: Zum Glück wohne ich in einem Ort, der ein bisschen abgelegen ist, rund 20 Kilometer nördlich von Beirut. Ich höre täglich die israelischen Kampfjets. Am Dienstag habe ich stundenlang die israelischen Drohnen über meiner Region gehört.
Ich sehe bis nach Beirut. Manchmal sehe ich abends vom Fenster Bombardierungen über der Hauptstadt. Das ist so ein schmerzhaftes Gefühl, ich denke: Was empfinden die Zivilpersonen, die Familien unter diesen Bomben?
Wie gehen Sie damit um?
Schlecht. Ich kann es nicht anders sagen. Das gemischte Gefühl von Machtlosigkeit, Ungerechtigkeit und Willkürlichkeit ist kaum zu ertragen.
Die Vertriebenen in den naheliegenden Schulen zu unterstützen und das Telefonieren mit Familie, Freunden und Bekannten im Libanon und in der Schweiz hilft manchmal, mich zu beruhigen.
Haben Sie Einschränkungen, dort, wo Sie leben, seit die Angriffe von Israel her angefangen haben?
Nein, aber man trifft Sicherheitsmassnahmen. Ich bewege mich wenig, und wenn überhaupt, dann in Richtung Norden. Aber ich fahre nicht mehr nach Beirut, obwohl dort die meisten Freunde leben, die ich hier habe.
Was erzählen Ihnen diese Freunde? Wie gehen sie damit um?
Nachdem die Libanesinnen und Libanesen seit einem Jahr sehen, was die israelische Armee in Gaza angerichtet hat, befürchten sie das Schlimmste für den Libanon.
Bei einigen merke ich, dass sie extrem gestresst sind, sie haben entweder Wut- oder Angstanfälle. Andere sind sehr zurückhaltend und sprechen gar nicht darüber. Die meisten sind hilflos, viele denken: Was machen wir? Was wird aus dem Libanon? Es herrscht die totale Verunsicherung.
Kennen Sie auch Menschen, die in Israel leben?
Nein, gar nicht.
Kennen Sie weitere Schweizerinnen und Schweizer, die im Libanon leben, und haben Sie auch Kontakt mit denen?
Ich kenne ein paar Personen, aber wir hatten in der letzten Zeit keinen Kontakt.
Hat die Schweizer Vertretung vor Ort mit Ihnen Kontakt aufgenommen?
Ja mehrmals per Mail. Mit der Empfehlung, den Libanon mit eigenen Mitteln zu verlassen, auf eigenes Risiko und auf eigene Kosten.
Wie informieren Sie sich über die Lage? Woher erhalten Sie sachliche Informationen?
Aus internationalen und lokalen Medien sowie aus den sozialen Medien. Ich informiere mich mindestens zehnmal am Tag über die Lage.
«Das Eskalationsrisiko hat weiter zugenommen. Die Entwicklung der Lage ist ungewiss und eine markante Verschlechterung der Sicherheitslage im ganzen Land ist jederzeit möglich», schreibt das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) auf seiner WebsiteExterner Link.
«Das EDA empfiehlt Schweizer Staatsangehörigen das Land mit eigenen Mitteln zu verlassen. Der Entscheid zur Ausreise erfolgt freiwillig und auf eigenes Risiko und eigene Kosten. Nutzen Sie deshalb die noch verfügbaren kommerziellen Transportmittel. Die Schweiz beabsichtigt nicht, eine organisierte Ausreise für Schweizer Staatsangehörige durchzuführen.»
400 in der Schweiz lebende Libanesinnen und Libanesen haben sich an den Bundesrat gewandt und fordern, die Schweiz müsse ihre Rolle als internationale Schiedsrichterin im Libanon wahrnehmen, indem sie für die Einhaltung des humanitären Völkerrechts sorge. Was erwarten Sie von der Schweiz?
Ich weiss nicht, was hinter den diplomatischen Kulissen vor sich geht, aber ich finde, dass die Schweiz als Depositarstaat und Unterzeichnerin der Genfer Konventionen in diesem Nahostkonflikt proaktiver sein und nicht bei Deklarationen bleiben sollte.
Israel bekämpft die Hisbollah, die vom Libanon aus agiert. Wie wird die Rolle dieser Miliz im Land wahrgenommen?
Der Libanon ist in Bezug auf die Hisbollah-Frage gespalten. Aber angesichts der Masse der Bombardierungen und der Anzahl der zivilen Opfer und der von Israel zerstörten Ortschaften gab es eine grosse Welle der Solidarität mit den zivilen Vertriebenen, die ihr Domizil überstürzt verlassen mussten, manchmal sogar im Pyjama.
Es geht hier nicht nur um die Hisbollah, wenn man die Absichten und Äusserungen Netanjahus und der Mitglieder seiner rechtsextremen Regierung in Betracht zieht. Sie drohen Libanon unter anderem mit «Zerstörungen wie in Gaza».
Es handelt sich um eine humanitäre Katastrophe, ein beträchtlicher Teil der libanesischen Bevölkerung hat flüchten müssen.
Doch der Libanon hat selbst kein Geld und ist angewiesen auf internationale Hilfe. Es gibt sehr viele private Initiativen, mindestens bis jetzt noch. Das ist toll.
Sie sagen es, die ökonomische und politische Lage im Libanon ist sehr angespannt. Sehen Sie eine Zukunft für sich in diesem Land?
Ich bin innerlich zerrissen. Was mir Sorgen macht, und das muss man auch betonen: Israel bombardiert nur die Orte, wo Schiiten leben. Ich frage mich: Ist dies eine Strategie, um einen fruchtbaren Boden für einen konfessionellen Konflikt zu schaffen?
Sowohl die Bevölkerung, die Geflüchtete aufnimmt, als auch jene, die fliehen mussten, leiden unter den Folgen einer schweren Finanz- und Wirtschaftskrise, die durch die Korruption und Misswirtschaft der politischen Elite verursacht wurde und die Bevölkerung verarmt hat. Die Zutaten für mögliche zukünftige Probleme sind vorhanden.
Meine Pläne sind ungewiss. Der einzige Punkt, an dem ich derzeit festhalte, ist mein Plan, im nächsten Monat in meine andere Heimat, die Schweiz, zu reisen. Mich sicher zu fühlen, umgeben von meiner Familie und meinen Freunden.
Ich freue mich auf das Abreisedatum, und gleichzeitig empfinde ich Angst, dass Israel den Flughafen von Beirut bombardieren könnte.
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