Warum die Geschichte von Heidi noch immer Kinder auf der ganzen Welt verzaubert
Ein Autor der New York Times beschreibt verwundert die Heidi-Begeisterung seines achtjährigen Sohnes. Die Schweizer Autorin Johanna Spyri hat einen Klassiker geschrieben, der Kinder aller Geschlechter 145 Jahre später noch berührt – auch wenn sie fernab der Schweizer Alpen leben.
Etwas Vorbereitung kann nicht schaden, dachte sich Dave Kim, Redakteur der Literaturbeilage der New York Times. Verwandte waren kurz zuvor von den USA nach Genf gezogen. Kims Familie plante, einen Besuch in der Schweiz.
Auf der Suche nach einem Kinderbuch für seinen achtjährigen Sohn, das ihn ein wenig auf das unbekannte Urlaubsland einstimmen könnte, stiess er auf Johannas Spyris Heidi-Erzählungen. Ein Klassiker, das wusste er, aber nicht viel mehr. «Ich hatte die Bücher selber nie gelesen», erzählt Dave Kim am Telefon von New York aus. Er selbst liebt Robert Walser und Max Frisch.
Anders als der Vater ist der Sohn kein Bücherwurm, liebt vielmehr Baseball und Youtube-Videos, er kämpfte gar bis vor kurzem mit dem Lesen. Entsprechend klein war Kims Hoffnung, ihn für das Buch zu interessieren. Und dann geschah das, was er als «Wunder» bezeichnet.
Der Junge in New York konnte einfach nicht genug von den Abenteuern des naturverbundenen Mädchens in den Schweizer Bergen bekommen. Amüsant beschreibt Dave Kim in der New York TimesExterner Link, wie diese Begeisterung des Nachwuchses schliesslich sogar zu einem Vater-Sohn-Ausflug zum Heididorf Maienfeld in Graubünden führte. Dort können Heidi-Fans durch Häuser wandern, wie sie im Buch beschrieben werden, die Geschichte des kleinen Mädchens wird lebendig.
Zunächst las der Vater noch in New York dem Sohn abends vor dem Schlafengehen eine frei verfügbare Version aus dem Internet vor – ohne grosse Erwartungen. «Ich dachte, er hätte eh kein Interesse», erzählt er. Doch im Gegenteil, der Junge drängte ihn fortwährend zum Weiterlesen. Also lieh er eine bebilderte Ausgabe aus der örtlichen Bibliothek aus, eine modernere Übersetzung, die sein Sohn dann selbständig weiterlas.
Auch seine Frau traute ihren Augen kaum. Im Auto hörte der Achtjährige dann Hörbuchversionen. Heidi war omnipräsent – und der Vater perplex. «Ich dachte: Was in der Welt fasziniert ihn an diesem Buch?» Kim selbst fand es anfangs eher langweilig, zu religiös. Doch dann, sagt er, habe er es doch zu schätzen begonnen. Er begann zu verstehen, was sein in der Grossstadt lebender Junge mit dem Mädchen aus den Schweizer Bergen gemeinsam hat.
Spyris 1879 und 1881 erschienene Heidi-Abenteuer wurden in über 55 Sprachen übersetzt und zählen zu den meistgelesenen Büchern der Welt. Ganz verwunderlich sei es also nicht, dass auch ein amerikanischer Vater darauf stiess, sagt Christine Lötscher. Die Professorin für populäre Literatur und Medien mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendmedien an der Universität Zürich ist ausgewiesene Spyri-Kennerin.
Spyri schrieb Heidi für Mädchen und Jungen
«Heidi wird gar nicht so stark als Mädchen gelesen, sie ist ein Wildfang», sagt sie. Ihre Abenteuerlust und ihr Freiheitsdrang machten das Buch für Jungen und Mädchen gleichermassen interessant. Und das habe die Autorin auch so beabsichtigt. «Spyri wusste ganz genau, was sie tat und wen sie adressierte.»
Heidi sei ein Buch, so Spyris eigene Formulierung, “für Kinder und auch für solche, die Kinder liebhaben», anders als ihre Geschichten, die sie gezielt für Mädchen verfasste. «Die Kinderbücher wie Heidi sind an Kinder aller Geschlechter gerichtet», sagt die Zürcher Expertin.
Die lieben, dass Heidi ihren eigenen Kopf hat und bis zu ihrer Reise nach Frankfurt ein recht selbstbestimmtes Leben führt. Gleich am Anfang des Buchs befreit sich das von seiner Tante dick einpackte Mädchen auf dem Weg hoch auf die Alp von ihren einengenden Kleidern. Spyri-Expertin Christine Lötscher liebt «diese veritable Entfesselungsszene». Es ist, als werfe das Mädchen einen Panzer und alle Konventionen ab. «Spyri har diese Verwandlung ganz wunderbar beschrieben.»
Es sind wohl auch die Freiheiten eines Waisenkindes, die Kinder spannend finden, egal ob in New York, Bern oder Berlin. Wie Pippi Langstrumpf schafft Heidi sich eine Ersatzfamilien, geht selbstbestimmt neue Bindungen ein. Das ist eine Fantasie, die viele Eltern kennen, wenn junge Kinder beschliessen, nun mit ihren besten Freunden zusammenzuziehen.
Unruhig wie Kinder heute
Aber auch Spyris Naturbeschreibungen berührten Kinder bis heute, sagt Lötscher. Heidi springt befreit barfuss über die Wiesen, versteht sich mit den Tieren, liebt die Natur und die Magie, wenn die Bergmassive abends glühen. Das strikte gesellschaftliche Korsett des 19. Jahrhunderts bleibt unten im Tal. In das wird sie später während ihrer Zeit in Frankfurt gezwängt und leidet unendlich.
«Den Gegensatz zwischen dieser wahnsinnigen Freiheit in den Bergen und dem Eingesperrtsein in Frankfurt begreifen Kinder sehr intensiv, denn auch sie erleben Zwänge und befreiende Momente», erklärt Christine Lötscher die andauernde Aktualität des Buchs. Heidi lässt sich nicht disziplinieren, nie kann sie stillstitzen.
In ihrer Unruhe und Rastlosigkeit ähnelt sie vielen Kindern heute. Sie ist ein Freigeist, den strikte Regeln und Einengung regelrecht krank machen. So sei auch sein Sohn, bestätigt Dave Kim die Verbindung. Er versteht schliesslich, dass sein Junge «Heidis geradezu wilde Energie und ihren Optimismus, ihre fröhliche Missachtung von Anstand und Höflichkeit» liebt.
Das «Dreifinger-Faultier» unter den Kinderbüchern
Im Kontrast dazu bewegt sich die Spyris Handlung nur langsam vorwärts. David Kim nennt das Buch augenzwinkernd das «Dreifinger-Faultier» unter den Kinderbüchern. So wenig passiere in der Erzählung. Nie habe er erwartet, dass sein Sohn lange dabei bleiben würde.
«Vielleicht ist aber das genau der Punkt, dass Kinder und Erwachsenen im anderen Modus die Welt erfahren», vermutet Spyri-Expertin Lötscher. Das langsame Tempo des Buches gebe Kindern in der getriebenen Welt die Chance, innezuhalten und zur Ruhe zu kommen. So, wie es Dave Kim mit seinem Sohn erlebt hat.
Und auch wenn dieser mittlerweile seine Heidi-Phase hinter sich gelassen hat, bescherte das Buch Vater und Sohn eine unvergessliche Reise. Der gemeinsame Ausflug ins Heididorf, ohne Schwester und Mutter, die in Genf zurückblieben, war für ihn eine wunderbare Gelegenheit der Verbindung.
«Wir haben nicht viel über das Buch geredet», erzählt er, sondern die gemeinsame Zeit genossen. Auf der Zugfahrt von Genf nach Graubünden schauten sie aus dem Fenster, wanderten auf Heidi-Wanderwegen, besuchten das Heididorf und betrachteten abends gemeinsam, wie die untergehende Sonne tatsächlich die Berge zum Glühen brachte. «Es war magisch», erinnert sich der Vater.
Solange ihre Verwandtschaft weiter in der Schweiz wohnt, wollen sie auf jeden Fall zurückkommen und das Land weiter erkunden. «Vielleicht kann ich meinem Sohn ja beim nächsten Mal vorher Max Frisch zu lesen geben», sagt er lachend.
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