Warum die Schweiz keine Hauptstadt hat

In Bern sind zwar die Regierung, das Parlament und grosse Teile der Verwaltung angesiedelt. Doch es ist offiziell nicht die Hauptstadt der Schweiz, sondern trägt den Titel "Bundesstadt". Das wirft die Frage auf: Was ist der Grund dafür?
Fragt man Menschen aus dem Ausland, welche Stadt die Hauptstadt der Schweiz sei, bekommt man oft Antworten wie Zürich oder Genf.
Die Antwort macht eigentlich auch Sinn: Zürich ist die grösste und wirtschaftlich bedeutendste Stadt, Genf ist das Zentrum der internationalen Organisationen.
Aber nein, falsch geraten! Und die richtige Antwort lautet auch nicht Bern. Dort sind zwar die Regierung, das Parlament, die Bundeskanzlei und ein Grossteil der Verwaltung angesiedelt, aber Bern wird nicht Hauptstadt genannt.
Warum das so ist? Weil die Schweiz die Schweiz ist – und das bedeutet: komplizierte, historisch gewachsene und eher pragmatische Lösungen.
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Ein Blick zurück: Das politische Zentrum war früher kaum greifbar
Um zu verstehen, warum die Schweiz bei der Definition ihrer Hauptstadt eine Sonderrolle einnimmt, müssen wir weit zurückgehen, bis in die Entstehungsgeschichte der Schweiz.
Das Land entstand ab 1291 aus einer Reihe von immer mehr Kantonen, die sich in einem lockeren Bündnis zusammenschlossen.
Bis Ende des 18. Jahrhunderts kannte die Alte Eidgenossenschaft noch kein Parlament im eigentlichen Sinn. Als Staatenbund unabhängiger, souveräner Kantone ohne klare Einheit verfügte die Eidgenossenschaft über eine Tagsatzung, einen Kongress von Gesandten der Kantone.

Diese fand alternierend in verschiedenen Städten statt, in Luzern, Zürich, Schwyz und besonders häufig in Frauenfeld (Kanton Thurgau) und Baden (Kanton Aargau). Kurioserweise aber auch in Orten, die wie Konstanz ausserhalb der Eidgenossenschaft lagen, wie das Historische Lexikon der Schweiz schreibtExterner Link.
Im Jahr 1798 marschierten die Truppen der Französischen Republik in die Schweiz ein. Die alte Eidgenossenschaft wurde durch die Helvetische Republik ersetzt, einen zentralisierten Einheitsstaat, der dem französischen Modell nachempfunden ist.
In den fünf turbulenten Jahren ihrer Existenz fungierten nacheinander die Städte Aarau, Luzern und Bern als Hauptstadt. Doch zufrieden war damit niemand.

Ab 1815 rotierte der Status der Hauptstadt, damals noch «Vorort der Eidgenossenschaft» genannt, alle zwei Jahre zwischen Zürich, Bern und Luzern, wie der Historiker André Holenstein in einem Artikel in der Publikation Unipress der Universität BernExterner Link schreibt. Das klingt nach viel Umzug, wenig Effizienz und noch mehr Diskussionen.
Die Wahl der Bundesstadt: ein typisch schweizerischer Kompromiss
1848 wurde die moderne Schweiz als Bundesstaat gegründet. Um nach dem Sonderbundskrieg von 1847Externer Link einer Machtkonzentration der liberalen Kantone entgegenzuwirken und den föderalistischen Charakter des Landes zu bewahren, wurde ein gut schweizerischer Kompromiss gefunden.
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Wie wurde die Schweiz die Schweiz? Die Stationen bis 1848
Am 28. November 1848 stimmten die Bundesparlamentarier sowohl im Nationalrat wie auch im Ständerat bereits im ersten Wahlgang für Bern als Sitz der Bundesbehörden.
Warum Bern? Als Gründe dafür wurden die zentrale Lage und die Unterstützung durch die französischsprachigen Kantone genannt. Zudem stellte die Stadt das erforderliche Grundstück für die Bundesbauten kostenlos zur Verfügung. Ein kluger Schachzug.

Andere wichtige Institutionen wurden gemäss Artikel 108 der neuen Bundesverfassung auf weitere grosse Städte verteilt. So kam etwa das Bundesgericht nach Lausanne, das Bundesstrafgericht nach Bellinzona, und die Nationalbank hat je einen Sitz in Zürich und Bern.
Seither wird Bern als «Bundesstadt» bezeichnet, obwohl dieser Begriff nicht einmal in der Bundesverfassung, sondern nur auf Gesetzesstufe festgeschrieben ist, wie auf der Website zu 175 Jahren Bundesverfassung nachzulesen istExterner Link.
Mit dem Verzicht auf die Wahl einer Hauptstadt hätten die Bundesparlamentarier (die Frauen erhielten in der Schweiz erst 1971 das Stimm- und Wahlrecht) Rücksicht auf die Stimmung in den katholisch-konservativen Kantonen genommen, schreibt Holenstein in seinem Artikel.
«Diese waren ja mit Gewalt in den neuen Staat geprügelt worden, den sie auch weiterhin politisch, kulturell und gefühlsmässig ablehnten.»
Die Strategie scheint aufgegangen zu sein – die Schweiz ist seither stabil geblieben und konnte sich als eine der erfolgreichsten Demokratien der Welt etablieren.
Editiert von Marc Leutenegger
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