Was eine Woche mit dem Servette FC über die Schweiz erzählt
Es ist die Conditio Helvetica: Heute gross, morgen ganz klein. Der Servette FC spielte innert einer Woche in der Westschweizer Provinz und an der Londoner Stamford Bridge. Fotograf Mark Henley hat das Team als Zuschauer begleitet. Ein Essay in Text und Bild.
Letzten Donnerstag spielte der Servette FC auf einer der grössten Bühnen des Fussballs: gegen den englischen Erstligisten Chelsea an der Stamford Bridge in London.
Der Kontrast zu den Erlebnissen ein paar Tage zuvor hätte nicht grösser sein können. Aber er fühlt sich vertraut schweizerisch an.
Eine Seite der nationalen Identität kristallisiert sich heraus: Das Ländliche, Lokale haftet den Stiefeln noch an, die entstaubt und poliert werden, um auf einer globalen Bühne aufzutreten.
Ohne die Analogie zu weit treiben zu wollen: Wenige Tage bevor Chelsea zum Rückspiel nach Genf anreist, wird der Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis in Genf den UN-Sicherheitsrat empfangen, der aus New York einfliegt, zu einer Veranstaltung ganz in der Nähe des Trainingsgeländes des Servette FC.
Es macht nicht immer Spass
Das Team aus aus Genf muss Signal-Bernex unbezwingbar vorgekommen sein, und das Endresultat von 7:1 spiegelt dies wider.
Der grösste Jubel an diesem Tag galt jedoch dem einzigen Tor der Gastgeber, das derselbe Kapitän und Torhüter hinnehmen musste, der einige Tage später gegen die Stars von Chelsea antreten sollte.
Für die Fans aus Genf war es nicht das beste Spiel, und angesichts des Gegners schienen die Tore lange auf sich warten zu lassen.
Der Regen trug sein Übriges dazu bei. Denn es goss in Strömen in der Kurve der Gäste, die keine Tribüne, geschweige denn eine Überdachung zur Verfügung hatten.
Wie ein Fan es ausdrückte: «Es macht nicht immer Spass. Aber das ist es, was man tut, man folgt seiner Mannschaft, ob man nun zu diesem Spiel geht oder zu dem grossen gegen Chelsea. Das ist auch der besondere Reiz des Schweizer Fussballs: in wenigen Tagen von einem schäbigen Platz wie diesem in ein legendäres Stadion zu kommen.»
Abgesehen vom Ergebnis und der Reisezeit hatte das Spiel auf dem Land einige Vorteile: Die Fans konnten Pyros zünden, die die ersten Minuten des Spiels in Rauch hüllten. Sie konnten am Spielfeldrand dicht an dicht mit den Spielern stehen und natürlich: während des Spiels trinken.
Ein Team für eine Milliarde Franken
Vier Tage später in London war der Kontrast deutlich spürbar.
Servette hatte seit 50 Jahren nicht mehr gegen eine englische Mannschaft gespielt. Und selbst damals hatten sie mit 2:6 verloren, gegen Derby County, was nicht ganz dasselbe ist wie ein Spiel gegen den FC Chelsea.
Dessen Fans singen in Sprechchören «Wir haben alles gewonnen». Das stimmt, und zweimal ‒ das letzte Mal vor drei Jahren ‒ auch den ultimativen Titel: die Champions League.
In den letzten 15 europäischen Spielen hatte Chelsea nur zweimal verloren, beide Male gegen Real Madrid. Das derzeitiger Kader ist etwas mehr als eine Milliarde Franken wert. Und das Team von Servette? Das bringt knapp 25 Millionen auf die Waage.
Es stimmt, dass Chelsea Probleme und einen neuen Trainer hat. Aber die englische Presse war in Bezug auf den Schweizer Gegner unmissverständlich. Man erinnerte an die jüngste 0:6-Heimniederlage im Stade de Genève.
Das Spiel in London war also bereits entschieden, bevor es begonnen hatte, und es wurden nur Spieler im Wert von 500 Millionen in der Startaufstellung angekündigt.
Bei einer Versammlung vor einem Pub in der Earls Court Road an einem weiteren Regentag brachte ein Servette-Anhänger die Dinge auf den Punkt: «Es ist ein grosses Privileg, hierher zu kommen und unsere Mannschaft spielen zu sehen. Da wir aus Genf kommen. Wenn wir ausscheiden, macht das nichts, wir werden wieder in Europa spielen. Vielleicht im nächsten Jahr, aber das hier in London ist eine einmalige Gelegenheit, die man nicht verpassen sollte.»
«Wir sind frei, sie sind es nicht»
Man konnte es spüren, als sich die Genfer:innen unter den wachsamen Augen der Londoner Polizei, darunter viele bekennende Chelsea-Fans, zu einem Zug zum Stadion aufstellten.
Einer der Polizisten sagte: «Das gehört zu unserem Job dazu, und wir können das Spiel sehen. Wir halten nach Pyrotechnik Ausschau, weil wir wissen, dass sie Teil der Fankultur ist.»
Da fragt man sich, ob sich unter den durchnässten Zuschauer:innen im Stade Municipal de Bernex am Sonntag auch einer der nun anwesenden Polizisten in zivil befand. Oder ob es vielleicht Späher des FC Chelsea gab, die den Gegner unter die Lupe nahmen und sich fragten, was dieser dort mitten im Nirgendwo im Regen zu suchen hatte.
Aus der Sicht der Londoner Heimmannschaft, die sich mit der britischen Boulevardpresse deckt, war das Ergebnis des Spiels eine ausgemachte Sache.
Unter den Fans von Servette wurden verschiedene mögliche Ergebnisse diskutiert, von einem 7:1 wie am Sonntag, aber umgekehrt, bis hin zur Überlegung: «Wir erwarten nicht, dass wir gewinnen, wir stehen nicht unter Druck, also sind wir auf eine Weise frei, wie sie es nicht sind.»
Unwirkliche Momente
Auch wenn die Fans von Servette schon durch viele Städte gezogen sind, so war dies doch etwas anderes. Das war London, eine Stadt mit einer Bevölkerung so gross wie die gesamte Schweiz. Und sie waren auf dem Weg nach Chelsea.
Trotz der bescheidenen Einschätzung der Siegchancen stimmte die Stimmung, als die Trommeln losgingen.
«Allez Servette allez, nous serons toujours là, nous chanterons pour toi, allez Servette, allez… Nous sommes les servettians, et nous allons gagner….»
Ein Gefühl des Unwirklichen machte sich breit.
Auf der Gästeseite ist das Stadion in London von Gebäuden verdeckt, eingerahmt von massiven Mauern aus Ordnern und Polizisten, zum Teil zu Pferd.
Ein bisschen Spannung, ein bisschen Warten.
Ein oder zwei Verhaftungen gab es auch, aber nicht ganz den Aufruhr, den die Zeitung The Sun vorausgesagt hat. Dann wurden die Fans hereingelassen, und der erste Blick auf das Spielfeld, das eigentliche Stadion, liess sie hörbar staunen.
Die Stamford Bridge ist eine Kathedrale des Fussballs, mit einer spektakulären Vertikalität, einer klaren und nahen Sicht von jeder Position aus. Und sie war bald gefüllt mit 37’900 Fans.
Es waren keine Fahnen in der Menge erlaubt, keine Pyrotechnik, nicht einmal Bier in Sichtweite des Spielfelds, und unten an der Bar hatte es viele Ordner:innen und Polizist:innen.
Die Dinge sind ein bisschen anders als zu Hause, diese Realität sank ein. Aber auch der Stolz machte sich bemerkbar. Die 700 Fans wollten Lärm machen, um in der grossen Stadt laut aufzutreten.
Auch wenn man verliert, die anderen sollen hören, dass man seine Mannschaft bis zum Ende unterstützt.
Verstummte Heimfans
Zur Halbzeit, beim Stand von 0:0, sind die 37’000 Heimfans, abgesehen von ein paar Buhrufen, fast verstummt, während die Gesänge der mittlerweile halbnackten Servette-Fans im Stadion widerhallen.
Die Wirklichkeit meldet sich mit einem Elfmeter zu Beginn der zweiten Halbzeit jäh zurück, gefolgt von der Einwechslung einiger teurer Startspieler. Ein zweites Tor besiegelte das 2:0 für den Favoriten.
Die Genfer aber hatten auch ihre Chancen und hätten beinahe getroffen, mehr als einmal und noch wenige Sekunden vor Schluss.
Am Ende kam es nicht dazu, Geschichte wurde nicht geschrieben, aber das Spiel war viel enger, als man es sich vorgestellt hatte.
Die Ehre wurde gewahrt, der Stolz war gross. «Danke Servette» wurde gesungen.
Einige schüttelten noch ungläubig den Kopf über die verpassten Chancen, als sich der Zug singend auf den Weg in die Nacht machte und dabei die neugierigen Blicke der Anwohner:innen und die etwas halbherzigen Zwischenrufe der Chelsea-Fans auf sich zog, die insgeheim wussten, dass es auch anders hätte ausgehen können.
«Sie wird mich ihren Hut anprobieren lassen, wenn wir am Bahnhof ankommen», lachte ein Fan, der mit einer der Polizistinnen zu flirten versuchte, immer noch im Überschwang des Abends, der sich mehr wie ein Sieg anfühlte als der eigentliche Abend vier Tage zuvor in der Genfer Provinz.
Die Perspektiven verschieben sich, aber wie der Kapitän des Servette FC nach dem Spiel sagte: «Ich habe den Eindruck, dass wir uns unseren Gegnern anpassen“, es war Ausdruck der Freude über diesen Abend und eine Kritik zugleich.
Ein sehr schweizerisches Fazit.
* Alle Fotos wurden mit dem Mobiltelefon geschossen, aus Sicherheitsgründen war im Fanblock keine Spiegelreflex-Kamera erlaubt.
Editiert und aus dem Englischen übertragen von Marc Leutenegger.
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