Wenn ein römischer Kaiser vom Podest zu stürzen droht
Die Goldbüste des Marc Aurel ist das wertvollste und bekannteste Objekt der Schweizer Archäologie. Doch während ihr Wert kaum bestritten wird, besagt eine neue Theorie, dass die Büste nicht den berühmten römischen Kaiser, sondern einen obskuren gallischen Usurpator darstellt.
Man kann sagen, dass die Büste von Marc Aurel der grosse Star der Schweizer Archäologie ist. In der Tat beeindruckt das perfekt erhaltene Objekt: Es ist 33,5 cm hoch, wiegt 1,6 kg – und es besteht aus 24-karätigem Gold.
Die Büste ist so wertvoll, dass sie in den Tresoren der Waadtländer Kantonalbank in Lausanne aufbewahrt wird – jene Büste, die im Römermuseum in Avenches bewundert werden kann, ist nur eine Kopie.
Das Original stammt aus Avenches, einer Kleinstadt im Kanton Waadt, die unter dem Namen Aventicum einst Hauptstadt des römischen Helvetiens war. Gefunden wurde sie bei Ausgrabungen, die Arbeitslose 1939 im Rahmen eines Beschäftigungsprogramms machten. Die Büste war in einem Rohr in der Nähe des Tempels des antiken Forums vergraben.
Die Entdeckung der Büste in der Wochenschau Cinéjournal suisse 1939 (Archiv RTS):
Ein philosophischer Kaiser
Die Figur zeigt einen bärtigen Mann im besten Alter mit zwei Falten auf der Stirn und einem Brustpanzer. Es gibt keine Inschrift, die seine Identität verraten könnte. Nur eines ist sicher: Aufgrund der Verwendung von Gold kann es sich nur um einen Kaiser handeln.
Kurz nach dem Fund einigten sich Experten auf einem Archäologiekongress in Berlin auf einen Namen: Marc Aurel (Marcus Aurelius), römischer Kaiser von 161 bis 180 n. Chr.
So aussergewöhnlich die Büste ist, so aussergewöhnlich ist auch die Person, die mit ihr in Verbindung gebracht wird. Denn Marc Aurel war einer der mächtigsten römischen Kaiser.
Er ist auch der Archetyp des philosophischen Kaisers, der seine Herrschaft auf die Lehren der Stoa gründete, und des schreibenden Kaisers, welcher der Nachwelt seine «Gedanken für mich selbst» hinterliess.
Die Geschichte des Barts und der Locken
Der Bart und die beiden sichtbaren Falten auf der Stirn sind klassische Attribute von Philosophen. Es könnte sich also durchaus um Marcus Aurelius handeln. Aber das ist nur eine von vielen Hypothesen, zumal etwa 15 Kaiser einen Bart trugen.
Auch andere Namen wurden genannt. Bevor sich die Archäologen 1939 auf Marc Aurel einigten, dachten sie zunächst an seinen Vorgänger Antoninus den Frommen (138-161).
Eine andere Theorie aus den 1980er-Jahren sah in der Büste das Porträt Julians des Abtrünnigen (361-363), jenes Kaisers, der vergeblich versucht hatte, das Heidentum wieder einzuführen.
Kürzlich wurde in «Passé Simple», der Westschweizer Monatszeitschrift für Geschichte und Archäologie, eine neue Theorie vorgestelltExterner Link. Sie stammt von Michel Fuchs, emeritierter Professor für Archäologie an der Universität Lausanne und Autor zahlreicher Publikationen über die ehemalige Hauptstadt der Helvetier.
Er vertritt die Ansicht, dass es sich bei der auf der Büste dargestellten Person um Tetricus I. (271-274) handelt, den letzten Kaiser des kurzlebigen Gallischen Reichs (260-274).
Wie schon andere vor ihm weist Fuchs darauf hin, dass alle bekannten Darstellungen Marc Aurels ihn mit lockigem Haar zeigen, was bei der Figur auf der Büste nicht der Fall ist. Die Büste passt dagegen sehr gut zu den Münzen mit dem Bildnis des Tetricus.
«Tetricus hatte eine feine Nase, einen gepflegten Bart, die Haare mit einem nach oben gesträhnten Teil, hinten glatt, sternförmig auf dem Schädel. Das entspricht sehr stark dem, was man von der Büste aus Avenches kennt», erklärte Fuchs kürzlich in der Tagesschau des Westschweizer Fernsehens (RTS).
Die in Avenches gefundenen Münzen zeigen zudem, dass die Stadt auf der Seite des abgespaltenen gallischen Reichs stand und nicht auf jener der rechtmässigen römischen Kaiser.
Reportage über die mögliche Identität der Büste im RTS-Téléjournal vom 17.9.2024 (Französisch):
Ein aussergewöhnliches Fundstück
Die neue Theorie von Michel Fuchs liefert keinen endgültigen Beweis für die Identität der Figur. Für Denis Genequand, Direktor des Römermuseums in Avenches, sind die Indizien gar «dünn».
«Das Studium der römischen Porträts ist keine exakte Wissenschaft und eine Disziplin, die nicht mehr in Mode ist. Die einzigen Darstellungen von Tetricus sind seine Profile auf Münzen. Man müsste andere Statuen haben, um einen vernünftigen Vergleich anstellen zu können», sagte Genequand in der Tageszeitung «La Liberté». Seiner Meinung nach ist Marc Aurel «die wahrscheinlichste Interpretation».
Fuchs überrascht diese Skepsis nicht. «Es erweist sich als äusserst schwierig, ja gewagt, das Bild von Marc Aurel anzutasten, welches die Goldbüste in Avenches vermittelt. Die Zuschreibung hat den Zweck, auf den Kaiser par excellence zu verweisen, dem alle seine Nachfolger nachzueifern versuchten und den spätere Autoren rühmen», schreibt er in «Passé Simple».
Über die Identität des Objekts wird wahrscheinlich nie Einigkeit herrschen. Über seine Aussergewöhnlichkeit hingegen schon.
«Es handelt sich um eine Goldbüste eines römischen Kaisers in einem sehr guten Erhaltungszustand, die im Vergleich zu anderen bekannten Goldbüsten sehr gross ist. Es bleibt also auf jeden Fall ein aussergewöhnlicher Fund», so Genequand gegenüber RTS.
Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub
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