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Bordeaux – Flucht aus der Schweizer Armutsfalle

Dieses Gemälde des Malers Louis Garneray zeigt die Steinbrücke und die Stadt Bordeaux um 1830. Louis Garneray

Der Schweizer Verein in Bordeaux feiert dieses Jahr sein 200-jähriges Bestehen. Sein Präsident, Jean-Michel Begey, hat die Archive einer Organisation durchforstet, deren Ziel ursprünglich darin bestand, "den bedürftigen Schweizer:innen zu helfen".

Die Schweizer Präsenz in Bordeaux hat eine lange Geschichte. Im Jahr 1822 gründeten rund fünfzig Schweizer:innen in Bordeaux die Société Suisse de Bienfaisance (auf Deutsch: Schweizerischer Wohltätigkeitsverein), um ihre zahlreichen Landsleute auf der Suche nach einem besseren Leben zu unterstützen. Heute sind die Aktivitäten der Schweizer Gesellschaft in Bordeaux hauptsächlich Freizeitaktivitäten, aber sie vereint immer noch etwa 120 Familien.

Anlässlich des 200-jährigen Jubiläums der Organisation erzählt Vereins-Präsident Jean-Michel Begey in einem Buch von den Höhepunkten der Geschichte der Schweizer:innen an der Atlantikküste. Wir trafen ihn in Bordeaux.

Jean-Michel Begey, der Präsident des Schweizer Vereins in Bordeaux, mit einer Sammlung von Verwaltungsakten der Organisation. swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch: Wie kam es zu diesem Buchprojekt?

Jean-Michel Begey: Die Geschichte begann mit einem aussergewöhnlichen Fund bei der Schliessung des Generalkonsulats im Jahr 2008. In einer Truhe fand man eine Sammlung von Verwaltungsakten der Schweizerischen Gesellschaft in Bordeaux seit ihrer Gründung im Jahr 1822.

Diese Dokumente sind fabelhaft, denn sie zeugen nicht nur von der Geschichte der Schweizer:innen in Bordeaux, sondern auch vom Leben in der Stadt im Allgemeinen und von den Lebensbedingungen in der Schweiz zu jener Zeit. Das Buch präsentiert interessante Auszüge aus dieser Sammlung und stellt sie in einen Kontext.

Die Organisation wurde unter dem Namen «Société Suisse de Bienfaisance» gegründet. Welche Rolle spielte sie damals?

In Bordeaux, einem der wichtigsten Häfen Frankreichs, kamen viele Schweizer:innen an, die vor der Armut in der Heimat flohen. Diese Menschen versuchten, per Schiff nach Übersee zu reisen, um dort Arbeit zu finden. Doch manche schafften die Weiterreise nicht und standen am Ende mittellos da.

Die Société de Bienfaisance half den bedürftigen Landsleuten. Sie versorgte sie mit Socken, Hosen, Bettwäsche, Brot oder auch mit Geldspenden. Und man half sogar denjenigen, die in die Schweiz zurückkehren wollten, aber keine Mittel dafür hatten.

Was sagen die Dokumente, die Sie gefunden haben, über die damalige Schweiz aus?

Sie zeigen, dass in der Schweiz grosse Armut herrschte – auch 100 Jahre später in den 1920er-Jahren. Bern hatte eine Meldung an alle Schweizer Vereine in der Welt geschickt. Die Regierung schrieb, dass viele Schweizer:innen keine Arbeit fänden, und bat diejenigen, die Arbeit hatten, zu helfen.

Nach dem Ersten Weltkrieg waren Arbeitskräfte in der Region Lot-et-Garonne und im Departement Gers schwer zu finden und teuer. So fanden dort auch Schweizer:innen Arbeit. Weil sie schlecht bezahlt wurden, schlecht wohnten und schlecht ernährt waren, unterstützte die Société de Bienfaisance diese Menschen sehr.

Die Organisation half auch rund 20 Arbeitern, die aus der Westschweiz kamen, um unter sehr schwierigen Bedingungen in einer Ölmühle in Bordeaux zu arbeiten. Sie ersetzten die für den Kriegsdienst mobilisierten französischen Arbeiter.

Der Samichlaus besuchte die Auslandshcweizer.Innen in den Räumlichkeiten des Grand Hôtel in Bordeaux in den Jahren 1935-1940. Société Suisse de Bordeaux

Welche Spuren haben die Schweizer:innen in der Region hinterlassen?

Viele Weinhändler:innen aus der Schweiz liessen sich in Bordeaux nieder. Sie haben die Stadt geprägt. Noch heute gibt es Strassen, die nach ihnen benannt sind. Um 1830 kamen auch viele Konditoren aus dem Kanton Graubünden in die Region. Diese Familien sind in Bordeaux noch heute bekannt. Die Demunds zum Beispiel sind bis heute als Caterer tätig.

Was hat Sie bei der Durchsicht des Archivs am meisten beeindruckt?

Ich habe einige interessante Anekdoten gefunden. Zum Beispiel erwähnt der Vorsitzende im Protokoll einer Versammlung den Tod eines Mannes. Er war sehr verärgert, weil der Verstorbene einen neuen Gehrock getragen hatte.

Er bat den Vorstand um die Erlaubnis, diesen zu verkaufen, um anderen bedürftigen Schweizer:innen helfen zu können. Diese Frage nahm die gesamte Versammlung in Anspruch.

In den 1950er Jahren fanden viele Versammlungen und Feste der Société Suisse de Bordeaux im Schweizer Haus statt. Société Suisse de Bordeaux

Im Jahr 1921 wurde sogar eine zweite Gesellschaft gegründet. Was war der Grund dafür?

Die Leute wollten nicht nur ihren Landsleuten helfen, sondern auch Spass haben. Sie gründeten den «Club Suisse de Bordeaux», der Freizeitaktivitäten organisieren sollte. 1945 schenkte der Sekretär der Société de Bienfaisance dem Club ein Gebäude, das zum Schweizer Haus wurde. Die Mitglieder trafen sich dort zu Partys, an denen manchmal bis zu 400 Personen teilnahmen.

Im Laufe der Zeit verlor der Wohltätigkeitsteil an Bedeutung. Anfang der 2000er-Jahre waren die Kosten für den Unterhalt des Gebäudes zu hoch geworden. Daher verkauften wir es und fusionierten die beiden Organisationen zur «Société Suisse de Bordeaux». Wir spenden jedoch weiterhin, um Menschen zu helfen oder Projekte zu unterstützen.

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