Die digitale Nomadin
Das Reisen liebte sie schon immer. Aber erst das mobile Internet machte es möglich, dass die digitale Nomadin Anina Torrado als erste Schweizerin ein Team einer Grossbank leitete und dabei einmal um die Welt reiste. Anina Torrado ist die sechste Digitalpionierin, die wir in der SWI swissinfo-Serie Swiss Digital Pioneers porträtieren.
Irgendwann hatte sie es satt, jeweils zu kündigen, wenn sie wieder den Duft der weiten Welt schnuppern wollte. Anina Torrado arbeitete damals als Abteilungsleiterin in einer führenden Schweizer Bank, als sie von einem ehemaligen Chef einen Tipp bekam: Ihre Stelle behalten und gleichzeitig ein Jahr um die Welt reisen. Das Internet und der Goodwill ihres Vorgesetzten liessen den Traum wahr werden.
Seit drei Jahren lebt Anina Torrado als digitale Nomadin. Damit gehört die Kommunikationsspezialistin zu einer wachsenden Gruppe von Berufstätigen, die ihren Büroalltag hinter sich gelassen haben und mobil arbeiten. Remote Worker, die nicht nur am festen Arbeitsplatz arbeiten, gibt es viele. Aber Torrado hat ihren festen Wohnsitz ganz aufgegeben und ist die erste Schweizerin, die ein volles Jahr in einer Kaderposition einer Grossbank Vollzeit gearbeitet hat und dabei gleichzeitig um den Globus gereist ist.
Wir sind uns vor einem Jahr in Mexiko begegnet. Ich war im Urlaub, sie lebte ihren Arbeitsalltag mit Feierabend am Strand. Diesmal erwische ich sie in Zürich. Im Café Lang erzählt sie mir die Details ihrer Geschichte.
In der Serie SWISS DIGITAL PIONEERS porträtiert SWI swissinfo.ch interessante Schweizer Persönlichkeiten im Ausland oder mit internationaler Ausstrahlung, die früh das Potenzial des Internets erkannt haben und es für ihre Tätigkeiten erfolgreich genutzt haben. Die Autorin Dr. Sarah Genner ist Medienwissenschaftlerin und Digitalexpertin. 2017 erschien ihr Buch ON | OFF.
Prozesse digitalisieren
Anfänglich hielt sie es nicht für möglich, dass ihr Projekt in einem vergleichsweise konservativen Umfeld bewilligt würde. Aber der Zeitgeist und die internen HR-Konzepte zur neuen Arbeitswelt spielten ihr in die Hände. Sobald sie in der Firma grünes Licht erhalten hatte, begann sie über Monate, die Arbeitsprozesse ihrer Abteilung zu digitalisieren. Sie definierte neue Meeting-Strukturen, führte neue Tools ein und testete, wie und ob sie auf die internen Laufwerke würde zugreifen können. Mehrmals musste sie sich dafür ins nahe Ausland begeben, um dort festzustellen, dass verschiedene Dienste an der Landesgrenze blockiert waren.
Torrado richtete es ein, dass sie alle Mitarbeitenden täglich einmal am Telefon haben würde. Sie führte Skype-Kaffee-Pausen ein und erlaubte ihrem Team, selber auch mobil zu arbeiten. «Ich sehe schnell, wenn jemand nicht mitzieht. Wichtig ist mir, dass meine Leute produktiv arbeiten. Wo ist zweitrangig.»
Wieder nomadisch
Mobiles Arbeiten ist keine Neuigkeit. Schon in den 1970er-Jahren diskutierte man das Thema Tele-ArbeitExterner Link dank Informations- und Kommunikationstechnik. Interessanterweise kommt im Rahmen der vierten industriellen Revolution, die durch das mobile Internet geprägt ist, das Nomadentum wieder auf. Vor mehr als 10’000 Jahren wurde der nomadische Mensch im Zuge der neolithischen Revolution mehrheitlich sesshaft.
«Manche merkten gar nicht, dass ich im Ausland war.»
Gemeinsam mit 77 digitalen Nomadinnen und Nomaden führte 2017 Anina Torrados Reise zunächst im Monatsrhythmus von Mexico City nach Bogota, Medellín, Lima, Cordoba und Buenos Aires. Nach drei europäischen Stationen – Prag, Belgrad und Valencia – ging es nach Asien: Kuala Lumpur, Chiang Mai und zum Schluss Kyoto. Die Destinationen waren durch die Organisation Remote YearExterner Link vorgegeben, die in einem Auswahlverfahren eine Gruppe zusammengestellt hatte, die über das ganze Jahr zusammen reisen und arbeiten sollte. Alles war organisiert: Flüge, Wohnung, Büro, Ausflüge, lokale SIM-Karte. Das erlaubte ihr, sich vollständig auf die tägliche Arbeit und die Entdeckungsreisen vor Ort zu konzentrieren und aus der Distanz ihr Team zu führen.
Die arbeitende Reisegruppe bestand mehrheitlich aus US-Amerikanerinnen und -Amerikanern, aber auch Länder wie Neuseeland, Indien, Russland, Spanien und Frankreich waren vertreten. In Torrados Jahrgang waren etwas mehr Frauen als Männer und Teilnehmende im Alter zwischen 21 und 57 vertreten. Der Altersdurchschnitt lag bei 33. Die meisten hatten keine Familien, manche eine Beziehung. Die Berufsgruppen waren querbeet: zum Beispiel Architektinnen, die mehrheitlich an Wettbewerben arbeiteten, Fotografen, Journalistinnen und Grafiker, eine Matchmakerin und 3D-Designer, Coaches, Programmiererinnen und ein Betreiber einer Online-Apotheke.
Produktivitätsfaktor Zeitzonen
Ihre Schweizer Lokalnummer hatte Torrado über Skype for Business permanent umgeleitet: «Manche merkten gar nicht, dass ich im Ausland war.» Wie organisierte sie das Arbeiten mit den Zeitzonen? Sie hatte mit ihrem Team abgemacht, dass sie immer einen halben Tag überlappend mit Schweizer Bürozeiten arbeiten würde. In Südamerika stand sie früh auf, in Asien arbeitete sie in die Nacht hinein. Die Zeitverschiebung wurde zum Produktivitätsfaktor in ihrem Team. Sie konnte auf einmal die Hälfte des Tages nutzen, die Arbeit ihres Teams zu feedbacken. Gemeinsam arbeiteten sie im Schichtbetrieb sozusagen rund um die Uhr.
«Heimat ist da, wo ich Freunde und Bekannte habe.»
Ihrer Firma wollte Torrado helfen, sich im Bereich neue Arbeitswelt weiterzuentwickeln. Sie schrieb Konzepte zu virtueller Führung und lieferte Inputs aus den Ländern zu digitalem Banking und mobilem Arbeiten. Sie verschickte einen internen Newsletter. Das wurde geschätzt und half ihr, trotz Distanz präsent zu bleiben. Sie nahm die Hälfte der Male statt E-Mail das Telefon in die Hand. Alle paar Monate kam sie in die Schweiz. «Nach drei, vier Monaten vergessen sie dich. Du musst dich zeigen. Und wenn du zu lange weg bist, verlierst du den Bezug. Dann kannst du zum Beispiel nicht mehr ganz nachvollziehen, was man in der Schweiz für ‹First World Problems› hat.»
Als sie nach zwölf Monaten in die Firma in der Schweiz fix zurückkehrte, war vieles anders. Neue Vorgesetzte waren da, die mehr Präsenz vor Ort wollten. Auch sie selbst spürte, dass sie sich verändert hatte. Nach einer Weile wurde klar: Es geht nicht mehr. Torrado sagt: «Ich wollte die örtliche Unabhängigkeit nicht mehr aufgeben.» In diesem Jahr wurde sie entspannt: «Es war mir egal, ob ich einen Abteilungsleitertitel trug oder nicht. Stattdessen hatte ich endlich das Selbstbewusstsein, mein eigenes Unternehmen zu starten.» Einige Projekte hat sie aus der Firma noch mitgenommen und als Selbständige weitergeführt. Digitale Nomadin ist sie geblieben. Im Keller bei ihren Eltern hat sie noch einige Schachteln. Ansonsten reist sie mit leichtem Gepäck.
Eine neue Form von Heimat
Hat sie noch eine Heimat, wenn sie überall und nirgends zuhause ist? St. Gallen ist eine Heimat geblieben, wo sie jederzeit unterschlüpfen kann. Auch nach Medellín in Kolumbien kehrt sie inzwischen regelmässig zurück. «Heimat ist da, wo ich Freunde und Bekannte habe.» Torrado lobt den Digitalisierungsgrad der Schweizer Behörden. Im Vergleich zu digitalen Nomadinnen aus anderen Ländern hat sie als Schweizerin in dieser Hinsicht klar Vorteile. Dass E-Voting jedoch noch nicht möglich ist, bedauert sie.
Die Digitalisierung hat es Anina Torrado ermöglicht, gleichzeitig zu reisen und zu arbeiten. Ihre ausgeprägten Kommunikationskompetenzen und ihre vergleichsweise leicht digitalisierbare Tätigkeit haben ihre Pionierleistung sicher erleichtert. Noch hofft sie, dass weitere in ihre Fussstapfen treten und sich den Traum ebenfalls erfüllen. Was braucht es dazu? Organisationstalent und eine tolerante Firmenkultur? «Vor allem Mut», sagt sie und lächelt.
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