Tausende von Zwangsehen in der Schweiz
Zahlreiche Frauen aus Osteuropa, dem Nahen und Mittleren Osten, Zentralasien, dem Maghreb und Afrika, die in der Schweiz leben, sind Opfer einer Zwangsheirat.
Zu diesem Schluss kommt eine Untersuchung der Stiftung Surgir, die am Mittwoch in Genf präsentiert worden ist.
Für ihre Untersuchung befragte die Stiftung rund 50 Institutionen wie Pflegeheime, Schulen, Migranten-, Frauen oder Aufnahmezentren in den Kantonen Bern, Zürich, Basel, Genf, Freiburg und Waadt.
Dabei wurden mindestens 400 Fälle bekannt, in denen eine junge Frau mit Gewalt zu einer Heirat gezwungen wurde oder mit dieser Absicht stark unter Druck gesetzt worden war. In zwei Fällen waren junge Männer Opfer einer Zwangsheirat. Alleine zwischen Januar 2005 und Mai 2006 wurden den befragten Institutionen 140 neue Fälle bekannt.
«Die Studie wird nun den Behörden übergeben. Die müssen dann entscheiden, was sie für Massnahmen ergreifen», sagte Surgir-Präsidentin Jacqueline Thibault gegenüber swissinfo. «Zur Zeit gibt es keine verbindliche Strategie, wie gegen die in der Schweiz verbotenen Zwangsehen vorgegangen werden soll.»
Zuchthaus für Täter
«Es handelt sich nur um die Spitze des Eisbergs», sagte Thibault. Wenn man die Ergebnisse der Umfrage hochrechne, komme man zum Ergebnis, «dass in der Schweiz Tausende von Frauen Opfer einer Zwangsheirat sind».
Thiebault sagte weiter, dass sich die Schweiz langsam bewusst werde, was für ein Problem Zwangsehen darstellten. Auslöser war unter anderem ein Gerichtsfall, in dem ein 26 Jahre alter pakistanischer Mann zu 18 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, weil er seine Frau erschlagen hat.
Die 21-jährige Frau lebte seit ihrem dritten Lebensjahr in der Schweiz, hatte einen Schweizer Pass und suchte nach vier Monaten Zwangsehe um die Scheidung nach.
Thibault sagte, dieses Urteil sende ein starkes Signal aus, dass dieser «Ehrenmord» in der Schweiz nicht toleriert werde.
Opfer meist wenig gebildet
Zwangsheirat sei nicht auf eine bestimmte Weltreligion beschränkt, sagt die Stiftung Surgir.
Gemeinsamkeiten zeigen sich viel eher im Hinblick auf Alter und soziale Herkunft der Opfer. Ein Drittel der im Rahmen der Untersuchung bekannt gewordenen Opfer ist zwischen 13 und 18 Jahren alt, die restlichen zwei Drittel zwischen 18 und 30 Jahren.
Die Opfer stammten, so Surgir, zudem aus sozioökonomisch bescheidenen Verhältnissen. Sie hätten nur eine geringe beziehungsweise gar keine Bildung.
Schläge, Freiheitsberaubung, affektive Erpressung, Einschüchterung, familiärer Druck und im Extremfall Vergewaltigung seien die Mittel, mit denen Frauen zu einer Zwangsheirat genötigt würden, so Surgir. Zudem seien fast alle Opfer mit dem Tod, also einem «Ehrenverbrechen» bedroht worden.
Frauenhaus
Viele der Opfer, die sich getrauten an die Öffentlichkeit zu gehen, sagten denn auch, dass sie mit dem Tod bedroht wurden, wenn sie die erzwungene Ehe nicht vollzögen. Zudem stehen sie in der fremden Umgebung vor zahlreichen Hindernissen: Sprachbarrieren, Trennung von der Familie und Geldmangel, oder es gibt keinen Ort, wo sie hingehen könnten.
Laut Jacqueline Thibault gibt es nur gerade einen Ort in der Schweiz, der sich auf Opfer von Zwangsehen spezialisiert hat: das Frauenhaus in Zürich. «Doch dort hat es lediglich Platz für sieben Frauen.»
Thibault drängt nun die Behörden, eine nationale Bewusstseins-Kampagne zu lancieren und den Opfern finanzielle Unterstützung zu gewähren. Dazu gehöre auch eine Hotline, an die sich die Opfer wenden könnten.
swissinfo und Agenturen
Die in Lausanne ansässige Stiftung Surgir wurde 2001 gegründet und ist weltweit tätig.
Sie engagiert sich in Fällen und Ländern, in denen Mädchen oder Frauen und deren Kinder kriminellen Traditionen und Bräuchen wie Zwangsheiraten oder Verstümmelungen zum Opfer fallen.
Zwangsehen verletzen die UNO-Konvention zur Beseitigung aller Formen von Diskriminierung gegen Frauen. Sie verletzen die Universelle Menschenrechts-Deklaration und etliche Artikel des Schweizer Zivilgesetzbuches (Nötigung (Art. 181 StGB).
Surgir definiert Opfer von Zwangsehen als Einzelpersonen, die gegen ihren Willen, mittels körperlichem oder psychologischem Druck zu einer ehelichen Verbindung gezwungen werden. Oder die fliehen, um eine solche Verbindung zu vermeiden.
Im Gegensatz dazu stehe die arrangierte Heirat, die aus einer Vereinbarung zweier Familien resultiert und von beiden Betroffenen akzeptiert wird. Hier wird gemäss Surgir kein Menschenrecht verletzt.
In der Schweiz waren bis vor 70 Jahren arrangierte Ehen an der Tagesordnung.
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