Armut in der reichen Schweiz
Schweizerinnen und Schweizer kämpfen mit hohen Preisen. Was bedeutet die Teuerung für Armutsbetroffene? Darüber sprachen wir mit unseren Gästen in Let's talk.
Zwar bewegt sich die Teuerung in der Schweiz auf einem vergleichbar tiefen Niveau – für viele Menschen ist aber auch das zu viel.
«Wir sehen, dass weniger Geld da ist, das man sparen könnte. Das löst Stress aus. Das gibt Probleme und uns Arbeit», sagt Philipp Frei in «Let’s Talk». Er ist Geschäftsführer der Budgetberatung Schweiz. «Die Leute sind emotionaler, betroffener», stellt Frei fest.
Tatsächlich sind die Reallöhne in den letzten zwei Jahren deutlich gesunken, also jene Löhne, auf denen bereits ein Teuerungsausgleich erfolgt ist.
Emanuela Chiapparini forscht und doziert an der Berner Fachhochschule für Soziale Arbeit zum Thema Armut. Sie sagt in «Let’s Talk»: «Die Tendenz des Anteils von Personen, die unter dem Existenzminimum leben, geht Richtung 10 Prozent.»
Armut ist da, aber kaum sichtbar
Man begegne ihnen im Alltag, aber man sehe ihnen die Existenznöte kaum an.
Das ist eine Schweizer Besonderheit. Armut ist kaum sichtbar.
Auch beim Schweizer Durchschnitt ist das frei verfügbare Einkommen in den letzten Jahren deutlich geschrumpft, wie folgende Grafik der Budgetberatung Schweiz zeigt:
In Blau dargestellt sind Sockelkosten wie Fix- und Haushaltskosten, die man kaum verändern kann. Sie steigen. In Rottönen wiederum das frei verfügbare Einkommen: Sackgeld und was zum Sparen bleibt. Über die letzten 30 Jahre ist dieser Teil deutlich kleiner geworden.
Am meisten von der gegenwärtigen Teuerung betroffen sind Menschen mit tieferen Einkommen. In der Schweiz waren im Jahr 2020 gemäss Bundesamt für Statistik 722‘000 Menschen von Armut betroffen.
Teuerung: Stress erreicht den Mittelstand
«Wir merken, dass es bis weit in die Mitte der Gesellschaft hineinreicht», sagt Philipp Frei. Er spricht von Familien, die noch vor kurzem unbeschwert planen konnten, und sich jetzt plötzlich Gedanken machen müssen, über Anschaffungen oder Fixkosten. «Es läuft irgendwann auf die Frage raus: Bezahle ich Krankenkasse, Miete oder Essen?», sagt Frei.
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Emanuela Chiapparini zu den Folgen: «Man hat das Gefühl, man habe versagt. Man zeigt sich weniger.» Ein grosser Teil der demokratischen Gesellschaft ziehe sich zurück, sagt sie, das sei verheerend.
In der Schweiz herrsche zwar ein hohes Arbeitsethos. Dieses führe zur Stigmatisierung von Armut. «Die Realität ist: Wer vermögend ist, hat die besseren Karten. Nicht, wer leistet», sagt Chiapparini.
Flucht vor der Altersarmut ins Ausland
Hinter Armut stehe in den meisten Fällen ein Schicksalsschlag wie Trennung, Krankheit oder Jobverlust, sagt Philipp Frei. Armut kann alle treffen. Davon kann auch Auslandschweizerin Katharina Diethelm berichten. Ihr Mann hatte eine schwere Operation, sie selbst ein Burn-out. So geriet dieses gut aufgestellte Ehepaar in eine prekäre Lage. Es ergriff die Flucht vor der Armut nach Costa Rica.
Immer mehr Schweizer Pensionär:innen zieht es in Länder, in denen es sich günstig leben lässt. Beliebt sind die Philippinen und Thailand. Dort nimmt die Zahl Schweizer Rentner:innen jedes Jahr um rund 10% zu.
Die Schere öffnet sich
Was passiert mit der Gesellschaft, wenn sich die Schere zwischen arm und reich öffnet? «Ihre Anliegen sind nicht mehr vertreten», sagt Emanuela Chiapparini. Zu einer Revolte komme es aber nicht, viel eher würde das Prekariat resignieren und sich zurückziehen. «Das ist ebenso problematisch wie eine Revolte, denn man erreicht sie nicht mehr.»
Demokratiespezialist Lukas Golder vom Forschungsinsitut Gfs Bern bestätigt dies. «Die Beteiligung von unteren Haushaltseinkommen am politischen Leben, insbesondere bei Abstimmungen und Wahlen, ist deutlich geringer», sagt er. «Solche Leute beteiligen sich in der Regel wenig, aber wenn sie sich beteiligen, dann kommt häufig eine Wut und eine Frustration gegenüber den herrschenden Verhältnissen, gegen die Behörden und Institutionen zum Ausdruck.»
Gefahr für die Demokratie
So könnten Kreise mobilisiert werden, die sonst nicht politisch aktiv sind. «Sie wählen dann oppositionelle Kräfte, sie wählen an den Extremen. Das kann aus der Mitte der Gesellschaft heraus zu einer Polarisierung führen», erklärt Golder.
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