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Theatralisches Spitzentreffen im Wilden Gebirge

Josef Ostendorf (rechts) in der Rolle des Wilhelm Tell, zusammen mit Julian Grünthal, als seinem zweiten Sohn. Keystone

Identitätssuche am Zürcher Schauspielhaus: Ist Tell ein Freiheitsheld, ein Desperado, ein Eigenbrötler, ein Revoluzzer oder was?

Meret Matter macht aus Schillers «Wilhelm Tell» packendes Theater.

Dumpf murmelt es aus der Waldestiefe, Kuhherden-Geräusche, Indianergeheul, mythisches Gegurgel. Kein Idyll, dafür blitzt es, und durch einen Schlitz im Bühnenprospekt wackelt ein Kuhkopf, es folgen Gräueltaten, Tell wankt als Retter in der Not daher, mit der Bierflasche salutierend.

Das läuft alles entrückt und doch nah ab, wie in einem Comic oder einem Trickfilm. Der rasende junge Melchtal mit seinem Calvin-Klein-Model-Body (Andreas Pietschmann) legt eine tanzperformative Nummer ein; man vernimmt Horrorerzählungen über den schändlichen Vogt; der Hut, der gegrüsst werden soll, wird verbal präsentiert, doch man sieht ihn gar nicht durch den zu kleinen Schlitz; Bauarbeiter mit Helm bauen Zwing Uri.

Frau stachelt lahmen Mann an



Szenenwechsel, offene Bühne. Herr und Frau Stauffacher beim üppigen Mahle. Sie wenigstens (eine grossartige Michaela Steiger, die auch noch Hedwig Tell, Berta von Bruneck und Armgard spielen wird) schlägt zu: Glas um Glas füllt sie mit Rotwein und mit vollem Munde zieht sie gegen den Vogt vom Leder, ihren Gatten zum Handeln auffordernd.

Doch Werner (Jean-Pierre Cornu) wirkt in seinem Calida-Homedress etwas gequält und fürchtet, «der gefährliche Sturm der Gedanken» seiner Frau könnte Unheil bringen.

Nun, sie kriegt es doch noch hin, dass er vorwärts sieht. Auf einem Bänkli trifft er die Gesinnungsgenossen Walter Fürst (Ludwig Boettger) und Melchtal: es wird zum Rütlischwur kommen, auch wenn Melchtal meint, diese Szene komme später. Sie kommt ja dann auch, auf dem Rütli mit mehr Volk, das summend-singend und ziemlich sektiererisch einig und frei sein will.

Und so geht es weiter. Wir bekommen auch noch die Story serviert vom alten Attinghausen (Hanspeter Müller), seinem abtrünnigen Neffen Ulrich von Rudenz (Nicolas Rosat) und dessen Geliebter Berta (hier wie ein Hollywoodgirl: Michaela Steiger).

Gags und schlaue Fragen



Das tönt nach einer Abwicklung von Gags, ist es aber nicht. Meret Matter hat sich, das spürt man, intensiv mit all den unzähligen Tell-Schweiz-Freiheit-Mord-Interpretationen auseinandergesetzt.

Mit den Spielerinnen und Spielern sowie den herrlich melancholisch musizierenden Dead-Brothers hat sie eine geraffte, sinnreiche, witzig-ironische, durch gescheite Pointen komplexe Fragen aufwerfende Inszenierung erarbeitet.

Mit rhythmischer Präzision, teils mit lang ausgespielten Pausen, gelingt es Matter, hinter all die unzähligen Fix-und-Fertig-Gebrauchssentenzen für den Alltag und die Politik, die in Schillers Stück so ungehemmt dahersprudeln, zu leuchten.

Man lacht genüsslich, wenn man wieder mal hört, die Axt im Hause spare den Zimmermann und der Mächtigste sei am stärksten allein, usw. und fragt sich dann, was dahinterstehe: politisch, gesellschaftlich, privat.

Tolles Duo Tell und Gessler



Eine gescheite und unterhaltende Theaterarbeit. Und über allem thronten grandios das Duo Tell und Gessler. Schauspielerisch bieten sie beide vom Feinsten: Joseph Ostendorf als Tell, dieser Koloss von einem Mann, kindlich, naiv-offen, ein Sturkopf und Eigenbrötler, stets abwesend und doch in jedem richtigen Moment da.

Und Gessler, gespielt von einer Frau. Warum? Ist nicht so wichtig. Denn was Karin Neuhäuser aus dieser Rolle macht, ist ein Hochgenuss: eine verschlagene, gequälte, ekelhafte und doch zerbrechliche Figur.

Nachdem Gessler von Tell aus dem Hinterhalt in Italo-Western-Manier niedergestreckt worden war und die Schweizer (ohne Tell) die Freiheit feierten, verdankte das Publikum den Abend mit langem Applaus.

swissinfo und Roland Maurer (sfd)

Die Aufführung «Wilhelm Tell» auf der Pfauenbühne des Schauspielhauses Zürich ist bis am 30. November zu sehen.

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