Neue Wege zu mehr Energieunabhängigkeit der Schweiz
Der Krieg in der Ukraine und die Klimakrise haben Regierungen dazu veranlasst, lokale Energiequellen zu erschliessen. Befürworterinnen und Befürworter der Geothermie sehen diese als Teil der Lösung. Doch etwas fehlt ihnen: eine "Erfolgsgeschichte".
In den luxuriösen Thermalbädern von Lavey-les-BainsExterner Link entspannen sich Besuchende in den Aussenbecken und bewundern die weissen Berggipfel in der Ferne. Mit 33 bis 36 Grad Celsius ist das sprudelnde Heilwasser angeblich das heisseste der Schweiz.
Wenn es im Rhonetal unweit des Genfersees entspringt, hat das Wasser bereits eine lange, mäandernde Reise hinter sich. Aus den gegenüberliegenden Bergen fliesst es unterirdisch bis 3000 Meter in die Tiefe. Dort erwärmt sich das Wasser und steigt im Dorf Lavey-Morcles über ein Netzwerk von Rissen an die Erdoberfläche.
Einen Steinwurf von den Bädern entfernt durchbricht das Rasseln eines Bohrturms die Stille. Seit Januar suchen hier Ingenieurinnen und Ingenieure tief in der Erde nach heissem Wasser. Fast 200 Jahre nach der Entdeckung der natürlichen heissen Quellen wollen sie die «geologische Anomalie» in der Region nutzen, um erneuerbare Elektrizität und Wärme zu erzeugen. Und damit einen Beitrag an die Energiewende der Schweiz leisten.
«Es geht gut voran», sagt Jean-François Pilet, Direktor der Alpine Geothermal Power ProductionExterner Link, die für den Bohrplatz zuständig ist. «Am Anfang lief noch alles sehr langsam, aber jetzt hat sich das Ganze beschleunigt.»
Ziel des Projekts ist es, Wasser mit einer Minimaltemperatur von 110 Grad Celsius und einer idealen Fliessgeschwindigkeit von 40 Litern pro Sekunde für die Stromerzeugung zu nutzen.
In diesem Video erfahren Sie mehr über das Geothermieprojekt in Lavey-les-Bains.
In einer ersten Phase wurde 1800 Meter vertikal in die Tiefe gebohrt. Die Bohranlage wird nun für eine Schrägbohrung bis 2500 Meter unter der Erdoberfläche vorbereitet. Sollten die angetroffene Fliessgeschwindigkeit und die Wassertemperatur nicht den Anforderungen entsprechen, kann bis 3000 Meter tief gebohrt werden.
Mit Hilfe von Spezialwerkzeugen, die in das Bohrloch hinabgelassen werden, machen sich die Fachleute ein Bild von den Gesteinsformationen und identifizieren die «produktivsten» offenen Risse, in denen heisses Wasser zirkuliert. «Es ist ein bisschen so, als würde man ein 3D-Puzzle bauen», sagt Pilet.
Wenn im Jahr 2024 die Bohrungen abgeschlossen sind und der Standort über ein Kraftwerk verfügt, soll das Projekt Strom für rund tausend Haushalte und Wärme für andere Einrichtungen liefern.
Vom Erfolg des 40 Millionen Franken teuren Vorzeigeprojekts, das vom Bundesamt für Energie (BFE) mitfinanziert wird, hängt vieles ab. Es wäre das erste operative Tiefengeothermie-Projekt in den Schweizer Alpen und könnte den Weg für weitere solche Projekte ebnen.
Vorzeigeprojekt
Das BFE sieht in der Geothermie neben anderen erneuerbaren Energien wie Sonne, Wind und Biomasse einen wichtigen Bestandteil des langfristigen Energiemixes der Schweiz.
Doch die Geothermie ist in der Schweiz noch relativ unbedeutend. Derzeit wird kein Strom aus geothermischen Quellen erzeugt. Die Geothermie in geringer Tiefe (bis 400 Meter unter der Erdoberfläche) wird hauptsächlich durch Wärmepumpen in Wohnungen und Gebäuden erzeugt. Sie deckte im Jahr 2020 1,3% des Wärmebedarfs in der Schweiz ab.
Der Verein Geothermie Schweiz geht davon ausExterner Link, dass bis 2050 mindestens ein Viertel des Wärmebedarfs aus heissen unterirdischen Quellen gedeckt werden kann – vor allem durch Anlagen in geringer und mittlerer Tiefe.
Auch das Bundesamt für Energie gibt sich zuversichtlich: Gemäss seinem Szenario 2050 könnten 7% des nationalen Stromverbrauchs durch geothermische QuellenExterner Link gedeckt werden.
«Die Geothermie hat in der Schweiz viel Potenzial», sagt Benoit Valley, Professor am Zentrum für Hydrogeologie und Geothermie der Universität Neuenburg. «Aber die Projekte können schwierig zu realisieren sein. Ausserdem sind sie mit Erkundungsrisiken verbunden. Wir müssen akzeptieren, dass beträchtliche Investitionen nötig sind und die Projekte nicht jedes Mal von Erfolg gekrönt sind.»
Chancen und Risiken
Auch dank staatlicher Subventionen und den proaktiven Strategien einiger Kantone ist das Interesse an der Geothermie in letzter Zeit gestiegen. Projekte laufen bereits oder sind geplant in den Kantonen Waadt, Genf, Jura, Freiburg, Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Thurgau sowie in der Zentralschweiz.
Die folgende Karte gibt einen Überblick über die Geothermie-Projekte in der Schweiz: grün (Projekt in Betrieb); blau (in Arbeit); gelb (in Planung); rot (Projekt aufgegeben).
«Nach anfänglichem Zögern hat sich die Schweiz endlich daran gemacht, ihren tiefen Untergrund zu erforschen und ihr geothermisches Potenzial auszuschöpfen», schrieb die Geothermie-Expertin Nicole Lupi kürzlich in einem Artikel für die Online-Plattform Die VolkswirtschaftExterner Link.
In Europa sind Island, Frankreich und Deutschland die führenden Länder hinsichtlich geothermischer Energieprojekte. Die Schweiz hat in der Vergangenheit weder nach Öl noch nach Gas gesucht. Deshalb muss sie ihre eigene Geothermie-Industrie «praktisch von Grund auf» aus dem Boden stampfen, sagt Lupi.
Es gibt viele potenzielle Hindernisse. Tiefe geothermische Projekte können durch Umweltbedenken blockiert werden. Und die Bohrungen sind riskant. Kleinere Erdbeben führten dazu, dass Projekte in St. Gallen (2013) und Basel (2006) aufgegeben wurden.
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Wie weiter mit der Geothermie?
Der Entscheid der jurassischen Regierung vom Februar, ein Tiefengeothermie-Projekt in Haute-Sorne wieder aufzunehmen, hat auf lokaler Ebene Bedenken ausgelöst. Jack Aubry, der Präsident einer jurassischen bürgerschaftlichen Vereinigung, bezeichnet die Idee, 5000 Meter unter der Erdoberfläche Wasser zu injizieren, als «gefährliches wissenschaftliches Experiment».
Pilet hält das Projekt in Lavey für sicher. Er betont, dass es nicht mit den Projekten in St. Gallen und Basel zu vergleichen sei und ständig überwacht werde. «Wir bohren hier nicht in eine geologische Verwerfung wie in St. Gallen. Und wir machen auch kein hydraulisches Fracking wie in Basel», sagt er. «Bei unserem Projekt gibt es nur ein einziges Bohrloch zur Wasserentnahme. Wir injizieren das Wasser nicht tief in den Untergrund.»
Gegenüber anderen erneuerbaren Energien habe die Tiefengeothermie viele Vorteile, sagt Lupi. Sie könne kontinuierlich genutzt und bei hohem täglichem oder saisonalem Bedarf hochgefahren werden.
Das könne dazu beitragen, das Versorgungsproblem im Winter zu lösen und die Abhängigkeit der Schweiz vom Gas zu verringern. Der Preis der Geothermie sei im Gegensatz zu den schwankenden Preisen fossiler Brennstoffe stabil und werde nicht von Klimaschwankungen beeinflusst.
«Alles, was es braucht, damit sich diese erneuerbare Energie in der Schweiz nachhaltig durchsetzen kann, ist eine Erfolgsgeschichte», schreibt Lupi in Die Volkswirtschaft. «Die Lösung liegt buchstäblich unter unseren Füssen.»
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Ein Ersatz für russisches Gas
Die Klimakrise und der Krieg in der Ukraine unterstreichen die Notwendigkeit, erneuerbare Energiequellen wie die Geothermie zu entwickeln, um die Energiewende zu beschleunigen und die Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
Gas macht etwa 15% des schweizerischen Endenergieverbrauchs aus. Es wird hauptsächlich zum Heizen und Kochen verwendet. Etwa die Hälfte des importierten Gases – 16 Terawattstunden (TWh) – kommt aus Russland.
Um ihre Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern, hat die Schweizer Regierung die Bemühungen verstärkt, Gas aus anderen Quellen zu beschaffen, zusätzliche Speicherkapazitäten zu sichern und mehr Flüssiggas zu importieren.
Die Schweiz müsse auch «mit aller Kraft» die erneuerbaren Energien ausbauen, sagte Energieministerin Simonetta Sommaruga im März, ohne sich auf eine bestimmte Technologie festzulegen. «Da ist mehr Tempo gefragt. Es gilt auch, die Energieverschwendung einzudämmen.»
Währenddessen betreibt die Geothermie-Industrie intensive Lobbyarbeit, um ihr Stück vom Kuchen abzubekommen. Letzten Monat hat eine Gruppe von 150 führenden europäischen Unternehmen Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, dazu aufgefordert, eine Strategie zur Erschliessung geothermischer Energie zu entwickelnExterner Link und Europas Abhängigkeit von russischen Gasimporten zu verringern.
Geothermie Schweiz geht davon aus, dass die Geothermie alle Schweizer Importe von russischem Gas ersetzen könnte. Es sei nur eine Frage des politischen Willens.
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Mit Wärmepumpen gegen die Erderwärmung und Putin
Der Verein Geothermie Schweiz schätzt, dass die Schweiz jährlich 17 Terawattstunden Wärme aus unterirdischen Quellen gewinnen kann. Damit könnte ein Viertel (70 TWh) des schweizerischen Wärmebedarfs gedeckt werden.
Die Hälfte davon würde durch eine Verdoppelung der Zahl der Quellen aus geringer Tiefe wie Wärmepumpen gewonnen. Der Rest könnte durch Projekte mit mittlerer Tiefe gedeckt werden, wie das Fernwärmenetz in Riehen bei Basel, das heisses Grundwasser direkt nutzt.
Das Bundesamt für Energie (BFE) gibt sich vorsichtiger. «Während die Schätzungen des Verbands vernünftig erscheinen, gibt es keine einzige technische Lösung, welche die Gasversorgung ersetzen kann», sagt Lüthi. «In der aktuellen Situation ist der Faktor Zeit essenziell. Es müssen sowohl kurzfristige als auch langfristige Lösungen gesucht werden.»
Simon Bradley
(Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger)
(Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger)
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