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Der Wiederaufbau ist nur der Anfang

Spaziergang inmitten von Trümmern: Vor einem Einkaufszentrum in der ukrainischen Hauptstadt Kiew.
Spaziergang inmitten von Trümmern: Vor einem Einkaufszentrum in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Keystone

Bei der grossen Ukraine-Konferenz, die Anfang Juli in Lugano stattfindet, steht nicht nur der Wiederaufbau des Landes, sondern auch die Zukunft der Ukraine im Fokus. Der Staat hat dringend Reformen nötig.

Die Ukraine Recovery-KonferenzExterner Link (URC2022) stand im Kalender, bevor die russische Armee am 24. Februar ihren Angriff startete. Sie ist Teil einer Reihe internationaler Konferenzen, die seit 2014 abgehalten werden und dazu dienen, die Bemühungen der Ukraine um Reformen und Demokratisierung zu unterstützen. Die nächste Ausgabe, die vom 4. bis 5. Juli in Lugano stattfinden wird, wurde vor dem Hintergrund des Krieges umgestaltet: Der Wiederaufbau und die Entwicklungspläne der Ukraine stehen im Zentrum.

«Priorität Nummer eins bleibt die Beendigung des Krieges, denn nur so endet auch das Leid der Menschen», sagt Manal Fouani vom Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) in der Ukraine. «Die Herausforderungen werden aber jeden Tag grösser.» Grossstädte wie Kiew oder Charkiw sind von Luftangriffen, Raketeneinschlägen und Artilleriebeschuss gezeichnet, über fünf Millionen Ukrainer sind ins Ausland geflohen, Tausende von Menschenleben wurden ausgelöscht, Existenzen zerstört und lebenswichtige Infrastrukturen in Schutt und Asche gelegt.

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Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis erklärte Ende Juni, dass URC2022 nicht als Geberveranstaltung gedacht sei, sondern als Schritt zu Staatsreformen, einschliesslich Regierungsführung, Dezentralisierung, Gewaltenteilung und Korruptionsbekämpfung. Laut der Konferenz-Website werden sich die Diskussionen auf den Wiederaufbau- und Entwicklungsplan der ukrainischen Regierung sowie auf Reformen, Prioritäten und Bedingungen für die internationale Hilfe konzentrieren.

Cassis bezeichnete die Veranstaltung als «Gelegenheit für die Schweiz, Verantwortung zu übernehmen und einen Beitrag zur europäischen Stabilität zu leisten». Laut der Schweiz sind 41 Länder und 19 internationale Organisationen eingeladen, darunter die Weltbank und die Vereinten Nationen. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, hat ihre Teilnahme bestätigt. Es wird erwartet, dass auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj entweder persönlich oder per Videoübertragung teilnehmen wird. Auch Vertreter:innen der Privatwirtschaft werden anwesend sein.

Wiederaufbau steht an erster Stelle

Nach Ansicht von Expert:innen sind die Chancen auf einen Waffenstillstand oder Friedensverhandlungen kurzfristig gering. Das bedeutet aber nicht, dass es zu früh ist, um über den Wiederaufbau nachzudenken, denn in vielen Teilen des Landes schweigen die Waffen, da sich der Konflikt auf den Osten konzentriert hat.

Trümmer sammeln
Menschen beseitigen nach einem russischen Raketenangriff die Trümmer des Liubotyn Railway Transport Lyceum, Region Charkiw, Nordostukraine. Keystone

Wie Fouani erklärt, unterstützt die UNDP die ukrainische Regierung mit technischem Fachwissen bei der Ausarbeitung ihres Wiederaufbau- und Entwicklungsplans sowie bei der Schadensbewertung. Der Plan umfasse die «wirtschaftliche, soziale, ökologische und infrastrukturelle Wiederherstellung». Der Schwerpunkt liege auf Effizienz und Rechenschaftspflicht und beziehe dank eines breit angelegten Konsultationsprozesses «die Stimmen der Menschen» mit ein.

Die dringenden Bedürfnisse müssen im Rahmen dieser Diskussionen ebenfalls berücksichtigt werden. In den befreiten Regionen kehren viele Bürger:innen bereits in ihre Häuser zurück, und diese müssten sicher gemacht werden. Grosse Teile des Landes sind vermint, was zu Opfern unter der Zivilbevölkerung führt. Ein umfassender Wiederaufbau kann erst beginnen, wenn die zerstörten Gebäude geräumt sind. «Es ist jetzt wichtig, dass schnelle Reparaturen, die Verbesserung der Infrastruktur und der öffentlichen Dienstleistungen so rasch wie möglich erfolgen und dass die Lebensgrundlagen, die Nahrungsmittelproduktion und wirtschaftliche Aktivitäten direkt unterstützt werden.»

Bekämpfung der Korruption

Es stellen sich auch Fragen zu den Bedingungen und der Überwachung der internationalen Hilfe.

Simon Pidoux, stellvertretender Leiter der Schweizer Botschaft in der Ukraine und Sonderbotschafter für die Konferenz, sagte am 20. Juni, dass «die Ukraine im Zentrum ihres eigenen Wiederaufbaus steht, dass sie die treibende Kraft ist und dass alle Entscheidungen gemeinsam getroffen werden». Bundesrat Cassis betonte aber, dass eine Grundvoraussetzung für die Konferenz «volle Transparenz und Überwachung der Finanzströme» sein sollte.

Denn im Korruptionswahrnehmungsindex 2021 von Transparency International rangiert die Ukraine nur auf Platz 122 von 180 Ländern. Eine Umfrage der in Kiew ansässigen Ilko-Kucheriv-Stiftung für demokratische Initiativen von 2020 ergab, dass 41,8% der ukrainischen Befragten Korruption als «beschämendes Phänomen ohne objektiven Grund» bezeichneten, während 36% sagten, Korruption sei «ein Bestandteil der gesellschaftlichen Traditionen». Bestechungsgelder für öffentliche Dienstleistungen sind seit jeher ein Problem, und es gab Bedenken wegen des Missbrauchs internationaler Gelder.

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Fouani vom UNDP sagt, dass in den letzten Jahren Fortschritte erzielt worden seien, betont aber, dass die Verwendung internationaler Finanzmittel weiterhin kontrolliert werden müsse.

«Kürzlich war von einem Schaden von über 600 Milliarden Dollar die Rede, und diese Zahl steigt weiter an.» Klar ist, dass der Wiederaufbau der Ukraine gigantische Summen an Hilfsgeldern beanspruchen wird.

«Die Konferenz befasst sich auch mit Reformen, Rechenschaftspflicht und Transparenz», ergänzt Fouani. Dies ist ein Thema, das von vielen Partnern angesprochen wurde. Die ukrainische Regierung selbst betonte, dass sie es ernst meine mit Reformen.

Viele psychische Probleme

Margaret Harris von der Weltgesundheitsorganisation (WHO), welche ebenfalls Vertreter:innen nach Lugano entsenden wird, betont, dass vor allem auch die gesundheitlichen Bedürfnisse der Bevölkerung angegangen werden müssten.

Mindestens 295 Einrichtungen seien von den russischen Angriffen betroffen. Der Wiederaufbau und die Verbesserung des Gesundheitssystems müssten oberste Priorität haben. Trotz der Herausforderungen funktioniert der Gesundheitssektor dank engagierter Teams, welche die Spitäler am Laufen halten, weiterhin.

«Wir helfen dort, wo Geräte und Gebäude beschädigt worden sind, wo die Versorgung fehlt», sagt sie. «Wichtig ist auch ein Fokus auf die psychische Gesundheit der Menschen. Daran arbeiten wir gemeinsam mit Präsidentengattin Elena Selenskyj, die eine entsprechende Initiative ins Leben gerufen hat.»

Harris sagt, dass schon vor dem Krieg viele Menschen unter psychischen Problemen gelitten hätten. Diese stünden oft mit Alkoholmissbrauch im Zusammenhang. «Nun ist auch ist auch der Rest der Bevölkerung durch den Terror, die Trauer und das Leid, das sie erlebt hat, enorm betroffen.» Für die psychische Gesundheitsfürsorge würden jetzt viele Mittel benötigt, sagt Harris.

Zerstörtes Haus
Am Morgen des 2. Juni wurde diese Grundschule irgendwo im Norden von Karkiv von russischen Truppen beschossen. Der Hausmeister der Schule kam bei dem Angriff ums Leben. Keystone

Darüber hinaus litten viele Ukrainer:innen unter Krankheiten wie Bluthochdruck, Diabetes und Schlaganfall. In den «befreiten Gebieten» seien alle Medikamente geplündert worden, weshalb die Vorräte wieder aufgefüllt und die medizinische Grundversorgung ausgebaut werden müssten. «Viele Menschen, die keine Medikamente bekommen konnten, starben in den Kellern – wahrscheinlich mehr als durch Granaten und Bomben.»

Ein ganzheitlicher Ansatz

Manal Fouani vom UNDP räumt ein, dass es in Angesicht so vieler Bedürfnisse schwierig sei, über Prioritäten zu sprechen.

Einige seien weniger offensichtlich als andere, sagt Rana Amirtahmasebi, eine in den USA ansässige Beraterin für Stadtplanung, die sich auf den Wiederaufbau nach Konflikten und kulturelle Strategien spezialisiert hat. Ihrer Meinung nach erfordert eine erfolgreiche Wiederaufbauplanung einen umfassenden und ganzheitlichen Ansatz.

«Es gibt weiche und harte Massnahmen», sagt sie. «Diese Massnahmen müssen Hand in Hand gehen, um eine Erholung zu ermöglichen. Dies ist nach Konflikten besonders wichtig, weil der soziale Zusammenhalt und der moralische Kompass der Gemeinschaften zerbrochen sind.»

Zu den harten Massnahmen gehörten Infrastrukturen wie Wasser- und Energieversorgung, Abwasserentsorgung, Verkehr und Strassen, erklärt sie. «Während diese wieder aufgebaut werden, sollten sich die Länder aber auch auf weiche Massnahmen wie Kultur und Bildung konzentrieren.»

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