Unermüdliche Kämpferin für die aktive Neutralität
Aussenministerin Micheline Calmy-Rey tritt per Ende Jahr zurück. Als Bundesrätin hat sie sich für eine "aktive Neutralität" in der Schweizer Aussenpolitik stark gemacht. Ihre Ideen wurden häufig kritisiert, doch die Wahrnehmung der Schweiz ist international gestiegen.
4. Dezember 2002: Micheline Calmy-Rey wird mit 131 Stimmen in die Schweizer Landesregierung gewählt. Die Politikerin, die ihren Eid vor dem Parlament ablegt, ist damals auf nationaler Ebene praktisch unbekannt.
Die Sozialdemokratin ist im Wallis geboren und aufgewachsen, hat aber ihre politische Karriere im Kanton Genf gemacht: Zuerst im Kantonsparlament, dann als Kantonalpräsidentin der Sozialdemokratischen Partei (SP) und schliesslich als Finanzdirektorin.
Die Schweizer entdecken ein neues Gesicht in der nationalen Politik. Calmy-Rey tritt elegant und zugleich schlicht gekleidet auf, fast immer trägt sie schwarz-weiss, manchmal ein wenig rot. Ihre Pagenfrisur mit blonden Strähnen, ein breites Lächeln: Calmy-Rey bringt zweifellos einen neuen Look ins Bundeshaus. Die neue Ministerin tritt fein, aber auch energisch und entschieden auf.
«Mein Charakter ist durch meine Walliser Familie geprägt, aber auch von meinen Erfahrungen in Genf mit seiner weltoffenen Haltung», erklärt Calmy-Rey nach ihrer Wahl.
In der Tat werden zwei Dinge ihre Zeit im Bundesrat bestimmen: Ihr Wille, als Vorsteherin des Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) eine Öffnung der Schweiz zu bewirken, und ihr Walliser Charakter, das heisst ihr hartnäckiger Stil, um diese Mission zu vollenden.
Aktive Neutralität
Calmy-Rey hat keinen einfachen Charakter. Die erste Frau in der EDA-Leitung schüttelt das diplomatische Korps förmlich durch, das an den ruhigen Führungsstil von Joseph Deiss gewohnt war. Als fordernde und manchmal impulsive Nummer 1 der Schweizer Diplomatie ist Calmy-Rey im Umgang mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern häufig überhaupt nicht diplomatisch. Ihr Spitzname «Cruella» (Die Grausame) aus ihren Zeiten im Genfer Finanzdepartement kommt wieder auf.
Ihre Aufgabe besteht indes nicht darin, zu einer beliebten Chefin zu werden, sondern der Schweiz im Ausland Ansehen und Respekt zu verschaffen. Mit Dynamik und viel Eifer arbeitet Calmy-Rey daran, eine Politik der «neutralen Aktivität» durchzusetzen.
So überschreitet sie am 20. Mai 2003 als erste offizielle ausländische Regierungsvertreterin die Demarkationslinie zwischen Nord- und Südkorea und diskutiert in Pjöngjang mit Führungspersönlichkeiten Nordkoreas.
Ebenfalls im Jahr 2003 unterstützt sie die sogenannte Genfer Initiative – einen Friedensplan, um den Dialog zwischen Palästinensern und Israelis anzukurbeln. In den folgenden Jahren fördert sie die Einrichtung des UNO-Menschenrechtsrates, der die von der UNO erlassenen Sanktionen besser kontrollieren soll.
Im Jahr 2006 kritisiert sie mit Bezug auf die Genfer Konventionen öffentlich die israelischen Bombardierungen im Libanon als «nicht proportional» und fordert die Einhaltung der Menschenrechte ein. Dies bringt ihr wiederum Kritik von Israel ein, aber auch Lob aus dem In- und Ausland.
Zweifellos ist es ein neuer Ton für eine Schweizer Diplomatie, die bis anhin ruhig war und jegliche internationale Aufmerksamkeit vermeiden wollte.
Öffentliche Diplomatie
In der Schweizer Regierung ist sie zwei Jahre lang die einzige Frau; in Meinungsumfragen spiegelt sich eine grosse Beliebtheit. Den Höhepunkt ihrer Popularität erreicht sie 2007, als sie erstmals Bundespräsidentin wird. Sie organisiert zehn Treffen mit der Bevölkerung, zu denen Hunderte von Personen kommen, sie singt «Les trois cloches» am französischsprachigen Fernsehen und macht durch einen patriotischen Diskurs am 1. August auf sich aufmerksam.
Calmy-Rey pflegt ihr Image – allzu sehr, wie ihre Kritiker meinen. Sie werfen ihr vor, «eine öffentliche Diplomatie» zu betreiben, um sich vor allem selbst ins beste Licht zu rücken.
Die schnelle Anerkennung des Kosovo, ihr Auftritt mit einem Schleier in Teheran, die gescheiterten Versuche einer Mediation in Kolumbien, die Libyen-Krise: 2008 wird zu einem schwarzen Jahr für die EDA-Chefin. Dies gilt ganz allgemein für die Schweizer Aussenpolitik, die in diesem Jahr einer internationalen Offensive in Zusammenhang mit dem Bankgeheimnis ausgesetzt ist.
Und Calmy-Rey irritiert. Vor allem wegen ihres Stils. Oder anders gesagt: Wegen ihres Charakters. Ihre Gegner werfen ihr Starrköpfigkeit vor, selbst wenn ein Fall verloren ist. Die Schweizerische Volkspartei (SVP) und die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) fordern Calmy-Rey zum Rücktritt auf.
Sie beschuldigen sie, einzig Misserfolge angehäuft zu haben, von der Genfer Initiative bis zur Libyen-Krise, und so die Antipathien gegen die Schweiz, von den USA bis nach Israel, verursacht zu haben. Zudem habe sie die Beziehungen mit den europäischen Partnern sträflich vernachlässigt.
Sichtbarere Aussenpolitik
Doch Calmy-Rey hat ein dickes Fell. Sie erträgt die Angriffe und profitiert schliesslich von der Tatsache, dass andere Minister wie Samuel Schmid und Hans-Rudolf Merz ins Visier der Medien und der Öffentlichkeit geraten.
Ihr Stil sorgt aber weiterhin für Irritation: Im Dezember 2010 wird sie mit nur 106 Stimmen zum zweiten Mal zur Bundespräsidentin gewählt – das schlechteste Wahlresultat einer Bundespräsidentenwahl seit 1919.
Auch der Rückhalt und die Sympathien in der Bevölkerung schwinden. In ihrem zweiten Präsidialjahr fällt sie in der Beliebtheitsskala zurück auf den vorletzten Platz. Nur Verteidigungsminister Ueli Maurer ist noch unbeliebter. Doch auch hier gilt: Ihre Aufgabe ist es nicht, vom Volk geliebt zu werden, sondern die Interessen der Eidgenossenschaft im Ausland zu wahren.
In diesem Sinne anerkennen viele Personen, auch einige ihrer politischen Gegner, dass sie sich während ihrer neunjährigen Zeit als Bundesrätin unermüdlich für die Menschenrechte und die Genfer Konventionen eingesetzt hat. Dass sie versucht hat, die während des Kalten Krieges vernachlässigte Tradition der Schweiz als Vermittlerin zwischen Konflikten neu zu beleben. Dass sie den Schweizer Repräsentanten in internationalen Organisationen eine aktivere Rolle verliehen hat. Kurzum: Dass sie die Sichtbarkeit der kleinen Schweiz in der Welt erhöht hat.
1945: Micheline Calmy-Rey wird am 8. Juli in Sitten (VS) geboren. Sie lebt bis zu ihrem 19.Lebensjahr im Wallis.
1968: Diplom in Politikwissenschaften an der Universität Genf.
1974: Eintritt in die Genfer Sozialdemokratische Partei (SP). Verheiratet, Mutter von zwei Kindern und während 20 Jahren Leiterin einer KMU im Buchvertrieb.
1981-1997: Mitglied im Genfer Grossen Rat.
1986-90;1993-97: Präsidentin der SP Genf.
1997-2002: Mitglied der Genfer Kantonsregierung
2003-2011: Vorsteherin des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA).
2007 und 2011: Bundespräsidentin.
Micheline Calmy-Rey hat in ihren neun Jahren als Bundesrätin alle Abstimmungen mit aussenpolitischen Themen «gewonnen»:
5. Juni 2005: Das Stimmvolk nimmt mit 54,6% der Stimmen die Vorlage zum Beitritt der Schweiz zum Schengen- und Dublin-Abkommen an.
25. September 2005: 56% des Stimmvolks sagt Ja zur Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf die 10 neuen EU-Mitgliedsstaaten.
26. November 2006: Ein Beitrag in Höhe von 1 Milliarden Franken zugunsten einer Aufbauhilfe für die neuen EU-Länder in Osteuropa (Köhasions-Milliarde) wird von 53,4% des Stimmvolks gutgeheissen.
8. Februar 2009: 59,6% der Stimmenden sprechen sich für eine Ausweitung des Personenfreizügigkeits-Abkommens mit Bulgarien und Rumänien aus.
17. Mai 2009: Die Einführung des biometrischen Passes gemäss Schengen-Standard wird von 50,1% des Stimmvolks gutgeheissen.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch