Absinth: Die Rückkehr der Grünen Fee

Absinth ist wieder in Mode – in der Schweiz und auf der ganzen Welt. Das einst verfemte Getränk erlebt ein Comeback. Besuch im Val de Travers, wo alles begann.
Absinth: Die grüne Fee ist tot. Sie liegt auf dem Boden, ein Dolch hat ihr das Herz durchbohrt. Neben ihr steht ein Geistlicher und gibt den Zeitpunkt der Ermordung an: Mitternacht, 7. Oktober 1910.
Das Etikett der Absinthflasche «La Belle Époque» fasst auf wenigen Quadratzentimetern das Schicksal eines Destillats zusammen, das in die Liste der verfluchten Getränke aufgenommen wurde und von der kollektiven Hysterie sowie dem Moralismus der damaligen Zeit verdammt wurde.

Wir sind in Couvet im Val de Travers, einem Tal zwischen Neuenburg in der Schweiz und Pontarlier in Frankreich. Hier liegt die historische Wiege des Absinths. Hier, wo alles begann, empfängt uns Philippe Martin in seiner Destillerie La Valote MartinExterner Link. «Am 1. März 2025, genau 20 Jahre nach der Aufhebung des Verbots, habe ich meine neue Brennerei eingeweiht und damit die Familientradition fortgesetzt», sagt er. «Einst war dieses Gebäude eine Reitschule und beherbergte die Pferde der Familie Pernod.»
Pernod – genau, ein Name, der weltweit als Synonym für Pastis steht, den berühmten französischen Anis-Aperitif, der aus dem Absinth abgeleitet wurde, nachdem dieser verboten worden war.
Absinth: Aus dem kleinen Tal in die ganze Welt
Im Jahr 1797 gründeten Daniel-Henri Dubied und seine Söhne Marcelin und Henri-Louis Pernod eine Destillerie in Couvet, um Absinth in grossem Stil herzustellen. Der Erfolg war so gross, dass Pernod bereits acht Jahre später beschloss, sich selbstständig zu machen, eine Fabrik in Pontarlier gleich hinter der Grenze in der Franche-Comté zu eröffnen. Damit legte er den Grundstein für ein Imperium.
«Sie waren Geschäftsleute, bevor es diesen Begriff überhaupt gab», sagt Raphael Gasser, Direktor des Absinthhauses in MôtierExterner Link. Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigte die Firma Pernod in Pontarlier fast 300 Mitarbeiter und produzierte rund 10’000 Liter Absinth pro Tag.
Henri-Louis Pernod verkaufte das Destillat an die französische Armee und bewarb es als Medizin gegen Magenbeschwerden und Malaria sowie als Mutmacher. «Nach den Kämpfen in Algerien oder Vietnam werden die Soldaten bald zu Botschaftern», erklärt Gasser. Ab diesem Zeitpunkt wurde Absinth auf der ganzen Welt getrunken.
Eine temporäre Ausstellung im Absinth-Haus erinnert an die Geschichte einer Flasche, die 1871 vor Jakarta im Frachtraum eines Segelschiffs auf dem Meeresgrund landete. Die 120 Jahre später gefundene Flasche erinnert an das goldene Zeitalter der grünen Fee.

Vom Kultgetränk wird Absinth zur Wurzel allen Übels
Bald wurde Absinth zum Kultgetränk von Malern, Schriftstellern und Bohemiens.
«Zwischen elf Uhr morgens und fünf Uhr abends wurde in den Pariser Cafés und Bistros die grüne Stunde gefeiert», sagt der Historiker. Zu den Anhängern der «grünäugigen Muse» gehörten Vincent van Gogh, Paul Gauguin, Henri de Toulouse-Lautrec, Charles Baudelaire, später auch Pablo Picasso, Oscar Wilde und Ernest Hemingway. Doch der wachsende Erfolg des Absinths blieb nicht ohne Folgen – vor allem in der Arbeiterschicht.
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«Absinth wurde zum Sündenbock in einer Zeit, die von tiefgreifenden sozialen Veränderungen und politischen Spannungen geprägt war», erklärt Raphael Gasser. «Eine wichtige Rolle spielte auch die Weinkrise, die durch die Reblaus verursacht wurde – ein parasitäres Insekt, das zwischen 1860 und 1880 die europäischen Weinberge verwüstete.»
Aufgrund der Weinknappheit wurde der Absinth für die Arbeiter, die sich von den anstrengenden Arbeitsschichten in den Fabriken erholen wollten, zu einer Alternative.
Absinth wird oft auch als «grüne Fee» oder, in seiner Herkunftsregion, als «bleue» bezeichnet. Nach Angaben des Vereins Kulinarisches Erbe der SchweizExterner Link wurde der Begriff von Oscar Wilde geprägt. Der irische Schriftsteller behauptete, er habe nach dem Genuss von Absinth, der vor dem Verbot im Allgemeinen grün war, Feen gesehen.
Der Spitzname «la bleue» rührt wahrscheinlich daher, dass Absinth bei Zugabe von Wasser eine bläuliche Färbung annimmt.
Den Begriff «Alkoholismus» kannte man damals noch nicht, aber man sprach von «Absinthismus», einem Phänomen, aufgrund dessen die öffentliche Meinung ein Verbot der «grünen Fee» forderte. Diese galt als Ursache für Wahnsinnsanfälle und häusliche Gewalt.
In der Schweiz führte eine moralisierende Kampagne von Kirche, Winzern und Bierbrauern nach einer Kriminalgeschichte zu einer Volksabstimmung im Jahr 1908, bei der sich 63,5% der Wählerinnen und Wähler für ein Verbot des Absinthbrennens aussprachen. Dieses trat 1910 in Kraft. Belgien hatte bereits 1906 und Frankreich 1915 eine solche Massnahme ergriffen.
Einer der Gründe für das Verbot des Absinths war das Vorhandensein von Thujon. Dieses Molekül ist in der Pflanze Artemisia absinthium, auch Grosser Wermut genannt, enthalten.
In hohen Dosen kann Thujon verheerende Auswirkungen auf das Nervensystem haben. Zum Zeitpunkt des Verbots waren jedoch weder die tatsächlich gefährlichen Dosen noch die Konzentrationen von Thujon in Absinth bekannt.
Verschiedene Studien der letzten Jahrzehnte kamen zu dem Schluss, dass die Thujonmenge in Absinth so gering ist, dass man mehrere Liter pro Tag trinken müsste, um eine für das Nervensystem schädliche Menge zu erreichen. Die Schweizer Gesetzgebung begrenzt den Thujongehalt jedoch auf maximal 35 mg/l.
Was den Konsum von Absinth vor dem Verbot noch schädlicher machte als das Vorhandensein von Thujon, war sein hoher Alkoholgehalt. Das Getränk wurde nämlich oft auf über 70 Volumenprozent destilliert.
Absinth-Destillat aus dem Kochtopf
«Im Val de Travers wurde der Absinth weiterhin illegal hergestellt. Es gab über hundert illegale Destillerien», sagt Philippe Martin.
Wir sind zurück in Couvet, in der Gegenwart. «Mein Vater benutzte einen alten Schnellkochtopf, den er zu einem Destillierapparat umgebaut hatte. Zum Abkühlen stellte er ihn in die Badewanne. Damals war Philippe sechs Jahre alt und durfte dieses Geheimnis niemandem verraten, da sein Vater sonst eine Gefängnisstrafe riskiert hätte. Als das Verbot 2005 aufgehoben wurde, hat mein Vater es fast bereut», erinnert er sich. «Mit der Legalität gingen der Geist der Rebellion und die Aura des Geheimnisses verloren.»

2014 übernahm Philippe Martin den seit Generationen überlieferten Familienbetrieb mitsamt dem Geheimrezept und wurde professioneller Destillateur. Er fügt dem Wasser und dem regionalen Alkohol, der aus Zuckerrüben gewonnen wird, die in der Zuckerfabrik in Aarberg im Berner Seeland verarbeitet werden, zehn Kräuter in genauen Mengen hinzu.
Die wichtigsten Kräuter sind Wermut major und minor, Fenchel, grüner Anis, Ysop und Zitronenmelisse. «Im Laufe der Jahre habe ich die ursprünglichen Rezepte perfektioniert und neue entwickelt», erklärt Philippe. «Ich produziere jährlich 8000 Liter Absinth, den ich hauptsächlich in der Schweiz verkaufe, aber ich habe auch Abnehmer in Italien, Deutschland und Frankreich.»
Absinth ist wieder in Mode.
In der Schweiz gibt es etwa vierzig Destillateure, allein im Val de Travers Externer Linketwa dreissig, von denen wiederum zehn ihren Lebensunterhalt damit bestreiten. Die jährliche Gesamtproduktion von Absinth wird auf 130¨’000 bis 140’000 Liter geschätzt.
«Entgegen der landläufigen Meinung hat Frankreich seine historische Führungsrolle nicht verloren, aber die Tschechische Republik hat es geschafft, sich als wichtiger kommerzieller Akteur zu etablieren», betont Raphael Gasser. Der Direktor des Maison de l’Absinthe glaubt, dass dieses einst verfluchte Getränk ein zweites goldenes Zeitalter erleben wird.
Absinth-Comeback in London
Dies wurde im Januar auch durch einen Artikel in der Zeitung The TimesExterner Link bestätigt. Darin heisst es: «Heute begeistert dieses Getränk eine neue Generation von Verbrauchern und erlebt ein Comeback, das in den Londoner Bars immer beliebter wird.» Bars und Brennereien berichten von jährlichen Umsatzsteigerungen zwischen 40 und 50 Prozent.
«Immer mehr junge Leute möchten hochwertige, lokale Spirituosen trinken», sagt Philippe Martin. «Das Destillationsverfahren ermöglicht es, ein sehr reines Getränk zu erhalten.» Ausserdem ist Absinth von Geheimnissen, dem Geist der Rebellion und von Ritualen umgeben. All dies sind Elemente, die die Legende wiederbeleben können.
So erlebt der Absinth aus Couvet im Val de Travers in der Schweiz und weltweit ein Comeback als Aperitif. Philippe Martin von der Brennerei La Valote Martin hat nun die Aufgabe, ein neues Etikett zu kreieren, das uns daran erinnert, dass die grüne Fee unsterblich geworden ist und all jene überlebt hat, die sie vor mehr als einem Jahrhundert tot wünschten.
Eine kürzlich vom Botanischen Garten Neuenburg in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Weinbau und Önologie in Changins durchgeführte Studie kam zum Ergebnis, dass Artemisia absinthium, die Pflanze des Absinths, nicht in grossem Umfang wild im Jurabogen wächst.
Die Hypothese besagt, dass die Pflanze mit den Römern in die Schweiz kam. Sie kannten ihre medizinischen Eigenschaften und stellten einen mit Anis, Fenchel und Wermut aromatisierten Wein her, dessen Rezeptur der modernen Grünen Fee ähnelt.
Heute haben einige Landwirte im Jura den Anbau der traditionellen Pflanzen, darunter Wermut major und minor sowie Melisse, Ysop und Minze, wieder aufgenommen, wo sie bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts angebaut wurden.
Die Absinthproduktion im Val de Travers steht seit Jahren im Zentrum eines Streits zwischen den Destillateuren über die Erteilung der geschützten geografischen Angabe (AOP). Nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts wurde das Gesuch erneut beim Bundesamt für Landwirtschaft eingereicht, das für das Register der AOP/IGP-Bezeichnungen Externer Linkzuständig ist.
Übertragung aus dem Italienischen: Balz Rigendinger
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