Schweizer Start-up-Zentrum setzt auf Migranten
Flüchtlinge und andere Migranten benötigen dringend Hilfe und sind eine Belastung für die Aufnahmestaaten und deren Gesellschaften: Diese weit verbreitete Wahrnehmung erschwert die Integration dieser Menschen. Ein Zürcher Verein will nun mit Klischeevorstellungen brechen und den oft übersehenen Talentpool fördern.
«Die Menschen öffnen sich allmählich und versuchen zu verstehen, wer Flüchtlinge und Migranten wirklich sind», sagt Ana Maria Angarita, Mitbegründerin von Capacity, einem Gründerzentrum für Flüchtlinge und Migranten. «Es gibt unterdessen einige Unternehmen, die Flüchtlingen eine Lehrstelle anbieten. Aber wenn es um die Start-up-Welt geht, ist es noch ein steiniger Weg. Von einem grossen Teil der Gesellschaft werden Flüchtlinge bis heute stigmatisiert.»
Angarita ist mit Umbrüchen und Neuanfängen vertraut: Sie floh 2001 aus ihrer kolumbianischen Heimat und zog als Minderjährige in die USA. Später führten sie ihre Jobs um die halbe Welt: Sie arbeitete unter anderem fürs Kinderhilfswerk Unicef in Indien. Sie studierte schliesslich am Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklung in Genf.
Es war ein Umzug innerhalb der Schweiz, der den Grundstein für die Schaffung von Capacity legte. Angarita lebte bereits acht Jahre in der Schweiz, als sie mit ihrem Mann von Genf nach Zürich zog. Der Wechsel hätte einfach sein sollen – war es aber nicht.
Herausfordernder Neustart
«Wir mussten von vorne beginnen», erinnert sie sich. «Es war schwer, vor allem für mich, einen Job zu finden. Ich erfuhr am eigenen Leib, was es bedeutet, sich als Flüchtling in der Schweiz zu integrieren. Es ist ein Kampf, und es benötigt viel, ein eigenes Netzwerk aufzubauen und das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, so dass sie Dich als zuverlässige Person und anerkannte Fachkraft wahrnehmen.»
Migrantinnen und Migranten, die überwiegend EU-Bürger sind und somit das Recht haben, in der Schweiz zu arbeiten, suchen oft jahrelang nach einem Arbeitsplatz, auch wenn sie über eine gute Ausbildung verfügen, sagt sie. Asylsuchende und anerkannte Flüchtlinge stehen vor noch grösseren Herausforderungen: Sie sind häufig von Arbeitslosigkeit betroffen und von Sozialhilfe abhängig.
Angaritas eigene Erlebnisse trugen zum Aufbau von Capacity im Jahr 2015 bei. Sie gründete den Verein mit anderen MenschenExterner Link, die zum Teil mit dem Asylwesen und der Migration zu tun hatten, darunter Alexa Kuenburg, eine in Zürich ansässige Ärztin.
Kuenburg, die sich mit der Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen befasste, war zur Überzeugung gelangt, dass es für Flüchtlinge mit posttraumatischer Belastungsstörung einfacher sein würde, sich zu erholen, wenn sie einen Job hatten. Ei9n solcher gibt ihrem Leben einen Sinn und hilft ihnen, eine eigene Identität in ihrem neuen Umfeld zu finden.
Die Lösung vor Augen
Der Syrer Mohamad Aldahouk ist vor dem Krieg in seinem Land geflohen und befindet sich nun mit einem F-Ausweis in der Schweiz. Formal bedeutet das, dass er ein vorläufig zugelassener ausländischer Staatsangehöriger ist, dem die Rückführung in sein Heimatland angeordnet wurde. Eine Anordnung, die zu diesem Zeitpunkt aber nicht durchgesetzt werden kann, weil sie als Verstoss gegen das Völkerrecht, als unzumutbare Gefährdung der Person oder als vollzugstechnisch unmöglich angesehen wird.
Der unsichere Status schreckt Aldahouk jedoch nicht ab. Er besitzt solide Deutschkenntnisse und hat ein Praktikum bei einem Optiker absolviert. Die Routinearbeit, das Verfallsdatum von Kontaktlinsen-Produkten zu kennzeichnen, öffnete ihm die Augen für die Diskrepanz zwischen der angegebenen Mindesthaltbarkeit und dem tatsächlichen Ablaufdatum vieler pharmazeutischer Produkte.
«Das ist ein Gesundheitsrisiko für den Verbraucher und eine verpasste Geschäftsmöglichkeit für das Pharmaunternehmen», erklärt Aldahouk mit ernstem Blick, «da Produkte nach ihrem Verfallsdatum weiterhin aufbewahrt und verwendet werden».
Er teilt mit uns sein Aha-Erlebnis, während er nervös darauf wartet, auf die Bühne zu gehen, um eine fünfminütige Präsentation über seine innovative Lösung zu halten: iCover. Dieses «intelligente Schliesssystem» besteht aus einem Deckel, der die Verfallszeit eines Produkts nachverfolgt und den Verbraucher mittels Licht oder Geräuschen darüber informiert, sobald der Moment gekommen ist.
Das naheliegende Einsatzgebiet ist die lukrative Pharmaindustrie der Schweiz. «Ich habe für dieses Projekt einen Businessplan von A bis Z erstellt», sagt Aldahouk. «Ich arbeite derzeit an einem Prototypen, um ihn anschliessend Investoren vorstellen und ein Patent dafür beantragen zu können.»
Der aufstrebende syrische Unternehmer war einer von 16 Teilnehmern, die 2019 am Launch-Programm von Capacity teilnahmen. Dieses schloss im Juni mit einer Messe ab. Das Programm bringt Flüchtlinge und Migranten mit qualifizierten Mentoren zusammen, die ihnen helfen können, ihre Gründungsideen zu verbessern. Ein freiwilliger Mitarbeiter der Bank UBS habe ihm geholfen, am Ball zu bleiben, sagt Aldahouk.
Auch die Kolumbianerin Natalia Sierra ist im Förderprogramm. Die Asylbewerberin spricht offen über die Widrigkeiten, denen ihre Familie in der Schweiz ausgesetzt war. Sie erzählt, dass sie und ihre Familie damals gezwungen worden waren, aus Kolumbien zu fliehen. Sie hätten Drohungen erhalten, weil sich ihre Mutter für Binnenflüchtlinge eingesetzt habe und in diesem Zusammenhang Missstände aufgedeckt und dokumentiert habe.
Harte Zeiten überstehen
«Es war eine sehr belastende und emotionale Situation», sagt sie gegenüber swissinfo.ch. «Es war ein Schock, unter diesen Bedingungen hier anzukommen. Es gab viel Unsicherheit und Erinnerungen. Bedauern und Nostalgie. Der Umgang in Flüchtlingsunterkünften ist hart. Es war eng, und wir waren isoliert. Sie behandeln Dich wie einen Verbrecher. Sie geben Dir das Gefühl, nicht willkommen zu sein. Je früher Du wieder nach Hause gehst, desto besser.»
Sierra ist eine Asylsuchende. Dies macht ihren Versuch, ihr Start-up «Power to the People» auf den richtigen Weg zu bringen, besonders schwierig. Sie möchte Stadtführungen anbieten, durchgeführt und geleitet von Flüchtlingen. Diese, so Sierra, könnten ihre Lieblingsorte in den Städten zeigen, entsprechend ihren Interessen, und ihre Leidenschaften mit den Teilnehmern teilen. Ein mögliches Thema könnten Graffiti sein. Dies würde es Einheimischen ermöglichen, ihre Stadt in einem neuen Licht zu sehen und einen Raum für den Dialog mit Flüchtlingen schaffen.
«Als ich bei Capacity angefangen habe, hatte ich nur den Hauch einer sehr verschwommenen Idee», sagt sie. «Jetzt habe ich eine konkrete Vorstellung davon, was ich tun möchte. Und ich habe eine unterstützende Gemeinschaft hinter mir.»
Mit Energie und Tatendrang hat sich Sierra bei der Suche nach Möglichkeiten mächtig ins Zeug gelegt und einen Master of Advanced Studies in Art & Society an der Zürcher Hochschule der Künste abgeschlossen. Sie wurde von der UNO-Flüchtlingsorganisation beauftragt, ein Plakat zu entwerfen, auf dem Flüchtlingsfrauen für die Ausstellung «Art Stands with Refugees» gewürdigt werden. Diese fand 2019 auf der Art Basel statt. Und Sierra ist Teil von Architecture for Refugees Schweiz.
«Was die Leute nicht sehen, wenn ein Flüchtling hier ankommt, ist sein Potenzial!», sagt Sierra.
Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz
Jeder fünfte Einwohner der Schweiz wurde im Ausland geboren. Nach Luxemburg ist das die höchste Rate in Europa.
Laut dem Bundesamt für Statistik lebten Ende 2018 knapp 2,1 Millionen Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz, mehr als zwei Drittel davon stammen aus der EU und den EFTA-Staaten.
Insgesamt 123’397 Menschen sind Asylsuchende (N-Ausweis), vorübergehend geschützte (F) oder anerkannte Flüchtlinge (F/B). Gemäss Capacity entspricht dies 1,45% der Schweizer Bevölkerung.
Diese Gemeinschaft sei zu 70-80% von staatlicher Unterstützung abhängig. Demgegenüber stehen Ergänzungsleistungen von 6-7% für die Migrantenbevölkerung (einschliesslich EU-Bürgern) und 2% für die Schweizer Bevölkerung. Während des Asylverfahrens (N-Ausweisinhaber) betrage die Beschäftigungsquote 6,3%, nach Anerkennung als Asylbewerber steige sie auf 30-40%.
(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)
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