Warum die Idee vom Gratis-ÖV in der Schweiz nicht ankommt
Weniger CO2-Ausstoss, weniger Staus. Das versprechen sich Promotoren für einen unentgeltlichen öffentlichen Verkehr. Wie realistisch sind solche Vorstösse in der Schweiz?
Einfach einsteigen nach Lust und Laune. Keine Automaten, keine Billette, keine Kontrollen mehr. Wer träumt nicht manchmal davon, wenn wieder mal die Zeit vor dem Billettautomaten knapp wird oder das Handy beim Ticketkauf eine wacklige Verbindung hat.
In LuxemburgExterner Link wird diese Vision ab 1. März 2020 Realität. Das Land will seine notorischen Staus entschärfen und CO2-Emissionen reduzieren. Luxemburg, das zweitkleinste EU-Mitgliedsland, ist rund 16 Mal kleiner als die Schweiz, also kaum vergleichbar. Doch auch hier wird das Thema in letzter Zeit wieder vermehrt diskutiert.
Die beste aller Möglichkeiten?
Ein vehementer Vorkämpfer für kostenfreien öffentlichen Verkehr (ÖV) ist Cédric Wermuth. Der Politiker kandidiert gegenwärtig für das Co-Präsidium der Sozialdemokratischen Partei (SP). Er hat eine Vision, wie er kürzlich gegenüber CH MediaExterner Link sagte: «Der ÖV soll gebührenfrei sein und von den Steuern finanziert werden», schlägt Wermuth vor.
Skeptisch ist Kay AxhausenExterner Link, Professor für Verkehrsplanung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH). «Sagen wir mal, es wird ein riesiger Erfolg, die Leute stürmen die Busse. Wenn diese dann überfüllt und somit auch unzuverlässig sind, dann sind die Kunden wahrscheinlich zwei Tage später weg», sagt er.
«Wenn die Busse überfüllt und somit auch unzuverlässig sind, dann sind die Kunden wahrscheinlich zwei Tage später weg.»
Kay Axhausen, Professor ETH
Axhausen fragt sich, ob Preisreduktionen oder Gratis-ÖV wirklich die effizienteste Massnahme sind, um das Ziel von weniger CO2-Ausstoss zu erreichen. Alternativ sähe er auch bessere Verbindungen, erleichtertes Umsteigen, Priorisierung an Lichtsignalanlagen, mehr Busspuren und Veränderungen des Liniennetzes als Möglichkeiten, den ÖV attraktiver zu machen.
Gratis = wertlos?
Kostenfreier Nahverkehr, das ist besonders eine Idee der Linken. Doch nicht alle in diesem politischen Lager sind vehement dafür. So plädieren einige für eine preisliche Abstufung. Ihrer Meinung nach sollte der öffentliche Verkehr mehr kosten, als wenn man zu Fuss oder per Velo unterwegs sei. Ein anderer Vorschlag ist, ein Generalabonnement für die ganze Schweiz für Jugendliche für 1000 Franken einzuführen. Diese Idee stösst auch bei Bürgerlichen auf offene Ohren.
«Kostenfreier Nahverkehr hätte mit Sicherheit einen positiven Umwelteffekt, wenn es die Leute zum Umsteigen vom Auto auf ÖV bewegt», sagt Laura Schmid. Die Projektleiterin für Verkehrspolitik beim links-grünen Verkehrs-Club der SchweizExterner Link (VCS) betont aber, ihr Verband stehe dieser Idee auch etwas kritisch gegenüber: «Denn was gratis ist, kann man auch so viel konsumieren, wie man will. Auch der ÖV braucht Platz, Energie und führt zur Zersiedelung.»
«Was nichts kostet, hat keinen Wert»
Roger Baumann, VöV
Gar nichts von der Idee hält der Verband öffentlicher VerkehrExterner Link (VöV), der politisch unabhängige nationale Dachverband der ÖV-Transportunternehmen. Der öffentliche Verkehr sei ganz klar ein volkswirtschaftlicher Standortvorteil der Schweiz. Aber: «Unsere Haltung ist klar: Was nichts kostet, hat keinen Wert», sagt Sprecher Roger Baumann.
Eine umfassende Liste über Versuche mit Gratis-ÖV gibt es nicht. Erwähnt wird aber immer wieder das Beispiel Hasselt in Belgien, wo der ÖV von 1997 bis 2013 gratis war. Dort wurde im Lauf dieser Jahre das Busnetz von drei auf über 50 Linien ausgebaut. Schliesslich konnte die Stadt die Betriebskosten aber nicht mehr tragen und musste wieder Geld für die Benutzung verlangen.
Das Vorbild
In der estnischen Hauptstadt TallinnExterner Link ist der Nahverkehr für die Einwohner seit 2013 kostenlos, weshalb sie heute vielen Befürwortern als Modell gilt. Gemäss Medienberichten hat die Zahl der Benutzenden um 14% zugenommen, es kommt zu weniger Staus, und die Luftqualität hat sich verbessert. Laut der Neuen Zürcher Zeitung sind Gratisbusse gegenwärtig auch in den englischen Städten Manchester, Bolton und Stockport unterwegs.
In Diskussion ist Gratis-ÖV unter anderem auch in einigen US-Städten. Ein Versuch läuft bereits in der nordfranzösischen Stadt Dünkirchen. Doch meist scheitert eine Einführung an den Kosten. Die Frage, die sich stellt: Ist der Nutzen gross genug, um die Kosten zu rechtfertigen?
So antwortete etwa der Berner Gemeinderat auf einen lokalen VorstossExterner Link: Die Gratisbenützung hätte positive Effekte, sei aber für die Stadt nicht finanzierbar. Einerseits müsste der Tarifverbund entschädigt werden, andererseits kämen indirekte Kosten für einen Kapazitätsausbau des Tram- und Busnetzes hinzu.
«Praktisch überall auf der Welt wird der ÖV subventioniert», sagt Verkehrsplanungs-Experte Axhausen. Mit vergleichsweise niedrigen Preisen versuchten die Städte schon heute, die Kundschaft davon zu überzeugen, den ÖV zu nutzen.
«Das Risiko besteht, dass die Passagierzahlen zu Spitzenzeiten immer stärker zunehmen.»
Laura Schmid, VCS
Würde dieser aber wie in der Vision des SP-Politikers Cédric Wermuth komplett von der öffentlichen Hand finanziert, «verlieren die Verkehrsbetriebe Steuerungsmöglichkeiten, in gewissem Umfang auch Unabhängigkeit gegenüber der Politik, weil sie dann vollständig am Tropf der Politik hängen», warnt er.
Ein Punkt, den auch der VCS bemängelt: «Mit Gratis-ÖV für alle kann man überhaupt keine Steuerung mehr betreiben, etwa durch Sparbillette. Das Risiko besteht, dass die Passagierzahlen zu Spitzenzeiten immer stärker zunehmen», sagt Schmid. «Aus Umweltsicht ist für uns die spannende Frage, ob die Verlagerungswirkung von Gratis-ÖV grösser ist als der Mehrkonsum.»
Alle Vorstösse abgelehnt
In der Schweiz wurden bereits mehrmals Versuche gestartet, Gratis-ÖV in der Bevölkerung beliebt zu machen. 1972 in Basel, 2004 in Le Locle, 2008 in Genf, 2010 in Glarus und 2012 für junge Menschen bis 25 in der Agglomeration St. Gallen. Keiner kam beim Stimmvolk durch.
«Alle bisherigen lokalen und regionalen Initiativen sind vom jeweiligen Stimmvolk klar abgelehnt worden. Die Idee hat offensichtlich keinen Rückhalt in der Bevölkerung», sagt Baumann vom VöV. Fazit: Die Dringlichkeit scheint in einem Land nicht zu bestehen, in dem der öffentliche Verkehr so gut ausgebaut ist wie kaum in einem anderen und bereits stark subventioniert wird.
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