«Nach meiner ersten Betreibung verlor ich mich in meinen Rechnungen»
Auch in der reichen Schweiz gibt es Menschen, die sich verschulden. Geldprobleme sind aber tabu und Betroffene wagen oft nicht, Hilfe zu suchen. Wie ein junger Mann nach Jahren finanzieller Schwierigkeiten den Weg aus der Schuldenfalle gefunden hat.
In der Schweiz leben 42,5% der BevölkerungExterner Link in einem Haushalt, der mit mindestens einer Art von Schulden belastet ist: Kredit, Leasing, Rechnungsverzug, überzogene Kreditkarte oder andere Schulden. Doch Geldprobleme bleiben in der reichen Schweiz weiterhin ein Tabu. Betroffene warten oft lange, bis sie darüber sprechen oder Hilfe suchen. Das verschlimmert ihre Situation nur.
Verschuldung in der Schweiz
Es gibt nur wenige detaillierte Zahlen zu den finanziellen Problemen der Schweizerinnen und Schweizer. Die aktuellsten Daten des Bundesamts für StatistikExterner Link (BFS) zu diesem Thema stammen aus der Umfrage «Statistics on Income and Living Conditions» (SILC) aus dem Jahr 2017.
Zu dieser Zeit lebten 42,5% der Bevölkerung in einem Haushalt mit mindestens einer Art von Schulden und 18,9% waren im Rückstand. Die häufigsten Kredite wurden für den Kauf eines Autos, von Möbeln oder zur Rückzahlung anderen Schulden aufgenommen. Die häufigsten unbezahlten Rechnungen waren Steuer-, Krankenversicherungs- und Telekommunikations-Rechnungen. 7,6% der Bevölkerung lebten in einem Haushalt mit mindestens einer Art von Schulden in den letzten 12 Monaten.
Maxime* ist 26 Jahre alt. Bald wird er das Ende seines Entschuldungsprozesses erreichen. Der Weg dorthin aber war lang und kompliziert. Alles fing «mit einer dummen Geschichte» an, erzählt er. Noch heute hat er Mühe, darüber zu sprechen.
«Um einem Freund zu helfen, der bereits in Schwierigkeiten war, erklärte ich mich bereit, für ein Telefonabonnement zu bürgen. Er bezahlte aber seine Rechnungen nie, und ich sass am Ende auf mehreren tausend Franken Schulden.»
Maxim ist damals 19 und nach Abschluss seiner Lehre arbeitslos. Er kann einen solchen Betrag nicht zurückzahlen. «Bis dann hatte ich keine Probleme und alle meine Rechnungen rechtzeitig bezahlt. Als ich die erste Betreibung erhielt, machte es ‹Puff›. Ich wusste nicht mehr ein oder aus, habe alles durcheinandergebracht und mich in meinen Rechnungen verloren.» Der junge Mann versucht, Lösungen zu finden. Er kontaktiert die Telefongesellschaft. Doch es ist unmöglich, die Schulden rückgängig zu machen.
Deshalb beginnt Maxime, andere Zahlungen aufzuschieben. Die Rechnungen häufen sich, auch wenn es ihm gelingt, das Wesentliche sicherzustellen: Essen, Miete und Telefon. «Ich ignorierte gewisse Rechnungen wie etwa die Krankenkasse. Ich legte sie auf den Stapel. Schliesslich wurden aus den 3000 Franken Schulden immer mehr und mehr…»
«Ich wollte das für mich behalten»
«Am Anfang beschäftigte mich das, ich war nicht stolz darauf, fühlte mich nicht gut. Dann lernte ich, damit zu leben.»
Maxime
Mit seiner Familie spricht Maxime nicht über seine Geldprobleme. «Ich wollte das für mich behalten. Ich wollte nicht, dass es weitergeht. Es war derart dumm!» Eines führte zum anderen, unbezahlte Rechnungen häuften sich. Im Lauf der Jahre nahm die Verschuldung stetig zu. «Am Anfang beschäftigte mich das, ich war nicht stolz darauf, fühlte mich nicht gut. Dann lernte ich, damit zu leben.»
Als der junge Mann eine Arbeit findet, berechnet das Betreibungsamt das von ihm benötigte Existenzminimum und pfändet den Rest seines Lohns, um die Gläubiger auszuzahlen. Etwa 1200 Franken pro Monat werden dafür verwendet, um seine Schulden abzubauen.
«Mir blieb nicht viel übrig», erinnert sich Maxime. «Genug, um Essen, Miete, Auto und Telefonabonnement zu bezahlen. Ich lebte mit dem, was ich hatte, und das war’s. Einmal konnte ich mir Ferien gönnen, aber dafür lieh mir mein Vater das Geld.»
Die Jahre vergehen, ohne dass die Lohnpfändung die finanzielle Situation des jungen Manns verbessern würde. «Ich ging zum Betreibungsbeamten, um zu wissen, wie hoch der geschuldete Betrag noch war. Ich hatte das Gefühl, dass sich nichts mehr bewegte, während mein Lohn von Monat zu Monat schrumpfte.» Wegen der Zinsen, die ständig zu den Schulden hinzukamen, wurde Maxime klar, dass er sich nicht mehr aus dem Schuldenschlamassel würde befreien können.
«Poststapel ist komplizierter als Ordner»
Als seine Frau schwanger wird, entscheidet er sich, aktiv zu werden. Maxime will seine finanzielle Unabhängigkeit wiedererlangen und für seine Familie sorgen können. Er kontaktiert das Centre Social Protestant (CSP) in La Chaux-de-Fonds. Dieses bietet ihm eine SchuldenberatungExterner Link an. Erster Schritt: alle Briefe und Rechnungen prüfen, sortieren und einordnen. «Das hat alles vereinfacht. Denn ein Stapel mit Post ist viel unübersichtlicher als ein gut sortierter Ordner.»
Mit seiner Beraterin listet Maxime alles auf, was er abbezahlen muss, erstellt ein Budget und hält seine Prioritäten fest. «Oft hängen Geldprobleme mit administrativen Problemen zusammen, weil man die Übersicht verloren hat», sagt Joanie Wicky, Sozialarbeiterin beim CSP des Kantons Neuenburg. «Alles vermischt sich, und mit der Zeit kann man das nicht mehr bewältigen. Die Priorität ist, wieder die Kontrolle über die administrative Situation zu erlangen.»
Um Maxime zu helfen, nimmt Wicky Kontakt mit den Gläubigern auf. Sie fragt, ob sie sich gedulden und beurteilen können, ob gewisse Rechnungen verhandelbar wären, etwa, indem auf Mahngebühren verzichtet würde. Zudem überprüft sie die durch das Betreibungsamt vorgenommene Berechnung des Existenzminimums.
«Vielen ist nicht bewusst, dass Rechnungen, sofern sie bezahlt werden, in die Berechnung des Existenzminimums einbezogen werden können. So etwa die Krankenkassenprämien, die jeden Monat grosse Beträge kosten.»
Maxims Priorität ist also, die Prämien wieder zu zahlen. Zudem kann er von Sozialleistungen wie etwa Prämienverbilligungen profitieren, auf die er ohne es zu wissen ein Recht hat. «Es gibt viele Dinge, die legal und trotz einer Lohnpfändung möglich sind, aber das wird nie bekanntgemacht», sagt Wicky. «Beispielsweise werden medizinische Kosten durch das Betreibungsamt erstattet, aber man muss die Rechnung selber bezahlen und sie dann direkt an das Amt schicken.»
«Ich mache keine Dummheit mehr»
«Es gibt viele Dinge, die legal und trotz einer Lohnpfändung möglich sind, aber das wird nie bekanntgemacht.» Joanie Wicky, Sozialarbeiterin CSP
Maxime hat seine Situation heute im Griff, namentlich dank einer externen finanziellen Unterstützung, mit der er alle seine überfälligen Rechnungen auf einmal bezahlen konnte. Seither zahlt er jeden Monat einen fixen Betrag ohne Zinsen an einen einzigen Gläubiger, und seine Schulden nehmen stetig ab. Bis 2023 sollten sie vollständig getilgt sein.
Er besucht jedoch weiterhin regelmässig seine Beraterin im CSP. «Das gibt mir Sicherheit, weil ich sonst befürchte, etwas zu vergessen und erneut in die Schuldenfalle zu tappen. Ich habe keine Lust mehr, eine Dummheit zu machen und in diesen Teufelskreis zurückzufallen, auch wenn meine Situation seit längerer Zeit stabil ist.»
Wicky betont, es wäre wichtig, mehr Präventionsarbeit zur Verschuldung zu leisten, denn das könne jedem und jeder zu jedem Zeitpunkt passieren. «Es herrscht ein Informationsmangel, weil dazu Mittel nötig wären. Denn um aus der Verschuldung herauszukommen, braucht es Jahre, wenn nicht ein ganzes Leben.»
Zudem helfe das Tabu, das in der Schweiz um Geldfragen herrscht, auch nicht dabei, darüber zu reden und um Unterstützung zu suchen. «Es gibt eine gewisse Verschlossenheit bei diesem Thema, man will nicht darüber diskutieren. Wir tun so, als sei alles in Ordnung, aber irgendwann türmen sich die Schulden», sagt Wicky.
Maxime ist mit seiner Erfahrung beim CSP sehr zufrieden. Er rät allen Menschen, die Geldprobleme haben, eine externe Unterstützung zu finden. «Man sollte nicht nach finanzieller, sondern besser nach moralischer und administrativer Hilfe suchen.»
Der junge Mann hat den Rhythmus wieder gefunden, um seine Zahlungen zu organisieren und die Lebensqualität zu verbessern. Er blickt optimistisch in die Zukunft: «Diesen Stress habe ich nicht mehr. Er wog doch sehr schwer für mich. Jetzt fühle ich mich besser, ich bin erleichtert.»
*Pseudonym
(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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