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Vor 50 Jahren: Das Nein gegen die «Fremden»

Am 7. Juni 1970 stimmten die Schweizer über eine Volksinitiative ab, die eine Begrenzung des Ausländeranteils auf 10% der Bevölkerung forderte. Die Initiative – nach dem Namen des Initianten meist "Schwarzenbach-Initiative" genannt – konnte nur in sieben Kantonen überzeugen und wurde mit 54% Nein-Stimmen abgelehnt. Doch der Feldzug gegen die so genannte Überfremdung blieb nicht ohne Folgen.

James Schwarzenbach (1911-1994) war der Sohn eines Textilfabrikanten. Er wuchs in einer grossbürgerlichen Familie in Zürich auf, wurde von einem Hauslehrer unterrichtet, absolvierte die Matura in einem Engadiner Internat und promovierte in Freiburg in Geschichte.

Schwarzenbach war Inhaber eines Verlagshauses mit katholischer Ausrichtung. Der Protestant war während seines Studiums zum Katholizismus konvertiert. 1967 wurde er für die Bewegung «Nationale Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat» in den Nationalrat (grosse Parlamentskammer) gewählt. Er machte sich und die konservative und isolationistische Partei (heute unter dem Namen «Schweizer Demokraten» bekannt) dank seiner redaktionellen Fähigkeiten und den drastischen Zielen seiner Initiative bekannt.

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An den Urnen wurde die VolksinitiativeExterner Link abgelehnt. Aber wie erklärt man die 70’292 Unterschriften, die in wenigen Monaten gesammelt wurden, und die Differenz von weniger als 100’000 Stimmen zwischen den Gegnern und den Befürwortern einer Initiative, die – im Wesentlichen – die Ausschaffung von 300’000 Menschen bedeutet hätte?

«Ich glaube nicht, dass viele der Ja-Stimmenden dies aus einer Ausländerfeindlichkeit heraus getan haben», sagte Bundesrat Ernst Brugger 1971 in einem Interview. Für den damaligen Leiter des Volkswirtschaftsdepartements war dies nicht reine Fremdenfeindlichkeit gegenüber den «Gastarbeitern», wie man sie damals nannte, sondern «Existenzangst» aufgrund der Überbevölkerung.

«Entscheidend war auch die aussergewöhnliche Entwicklung der Wirtschaft», so der Freisinnige Brugger, «und es gibt Männer, die von der Konjunktur profitieren, aber es gibt auch Männer, die nicht profitieren und sich vergessen fühlen. Viele fühlen sich durch eine Entwicklung konditioniert, gegen die man sich nicht wehren kann, sie denken, sie seien von der Technik manipuliert.» [Brugger sprach nur von Männern, weil die Frauen erst 1971 das Stimm- und Wahlrecht auf Eidgenössischer Ebene erhielten, N.d.R.]

«All dies hat zu einer Abwehrreaktion geführt; viele haben gedacht, dass die grosse Zahl von Ausländern diese Entwicklung noch beschleunigen würde», so Brugger weiter.

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Allein im Kanton Tessin wäre die Umsetzung der Initiative mit der Ausweisung von fast 30’000 Arbeitnehmern verbunden gewesen. In Gegenden mit weniger Grenzgängern hätte dies den Verlust von bis zur Hälfte der Arbeitskräfte bedeutet [aus ‹Prisma›, 13.05.1970]. RSI-SWI

Auch der Parlamentsjournalist Georges Plomb erklärte in einem Kommentar, man sei nicht nur mit dem Vormarsch der extremen Rechten konfrontiert, sondern auch mit einer poujadistischen «extremen Mitte», die sich als Verteidigerin der Mittelklasse und der Kleinunternehmer gegen die grossen Wirtschaftseinheiten, den Fortschritt der Technologie, die Konzerne anbiete. Sie präsentiere sich als Gegenmodell zu den linken Gruppen, denen vorgeworfen werde, die öffentliche Meinung zu stören.

Schwarzenbach selbst wies in der wahrscheinlichen Absicht, seine Thesen vorzeigbarer zu machen, den Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit zurück und zeigte mit dem Finger auf «eine Industrie, die übermässig expansionseifrig ist und oft vergisst, dass in einem Staat selbst die Wirtschaft eine Dienstleistungsfunktion hat» [aus einem Interview mit Silvano Toppi 1970].

«Wir sind nicht wütend auf ausländische Arbeiter, sondern auf diejenigen, die auf deren Rücken Profite machen», sagte er bei anderen Gelegenheiten mehr oder weniger wörtlich, auch wenn er sich selbst als überzeugten Antikommunisten bezeichnete.

Seine Wähler liessen nicht dieselbe Vorsicht walten. Nicht einmal vor der Kamera, wie diese Sammlung von Meinungen der damaligen Zeit zeigt. Ein Film, in dem auch die Italiener – die damals grösste ausländische Gemeinschaft in der Schweiz – sich verteidigen und ihre Situation beschreiben.

Formell arbeitete der Bundesrat keinen GegenvorschlagExterner Link zur Initiative aus. Aber die im März 1970 eingeführten Massnahmen zur Beschränkung der Ausländerzahl wurden als ein Mittel gelesen, die Bevölkerung davon zu überzeugen, die Schwarzenbach-Initiative abzulehnen. Obwohl die Regierung die Stabilisierung der Zahlen bereits seit 1964 zu ihrem Ziel erklärt hatte.

Die Frage der Zahl war also gelöst – 981’000, was 16% der heutigen Bevölkerung entspricht –, es blieb jene nach den Lebensbedingungen, insbesondere die erbärmlichen Unterkünfte für Saisonarbeiter, die selbst dann, wenn sie 10 oder 11 Monate des Jahres in der Schweiz verbrachten, kein Recht auf Familienzusammenführung hatten und in ihrer Niederlassungs- sowie Meinungs- und Redefreiheit eingeschränkt warenExterner Link.

In diesem Sinne hatte die Kampagne gegen die «Überfremdung» den positiven Effekt, dass politische, religiöse und philanthropische Organisationen sich für Ausländer zu interessieren begannen sowie mehr italienische Vereine in der Schweiz gegründet wurden.

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Als Reaktion auf die fremdenfeindliche Kampagne überwanden sie alle Differenzen und wählten ein einheitliches Vertretungsorgan (Nationales Komitee für Verständigung), das nicht die mögliche Begrenzung der Ausländerzahl thematisierte, sondern die Lebensbedingungen in Frage stellte und zum ersten Mal ein allgemeines Bild der Probleme entwarf und demokratische Freiheits- und Bürgerrechte einforderte.

Was James Schwarzenbach betrifft, so zog er sich 1979 aus der aktiven Politik zurück. Inzwischen war er wegen Meinungsverschiedenheiten mit einigen Führern der Nationalen Aktion zurückgetreten und hatte die Republikanische Partei der Schweiz gegründet. Es gelang ihm, 1971 sieben Abgeordnete dieser Partei in den Nationalrat wählen zu lassen, wo er selbst noch zwei weitere Amtszeiten blieb.

Obwohl er versuchte, die Identität der Schweiz und das Wohlergehen der Schweizerinnen und Schweizer zu erhalten, indem er eine «Kluft zwischen grossen Teilen der Bevölkerung und vielen Machtvertretern» anprangerte, war keine seiner weiteren Initiativen gegen die «Überfremdung» (1974Externer Link und 1977Externer Link) erfolgreich.

Eine Volksinitiative zur Begrenzung der Zuwanderung beim Volk durchzubringen, gelang 2014 jemand anderem als Schwarzenbach. Aber das ist eine andere Geschichte.

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Wie Demokratie die Schweizer Fremdenangst verdaut

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht 50 Jahre Schwarzenbach-Initiative gegen Italiener in der Schweiz – sie war der Auftakt zum politischen Narrativ «Wir und die Fremden».

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(Übertragung aus dem Italienischen: Sibilla Bondolfi)

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