Warum die Schweiz ausländische Arbeitskräfte braucht
Wie viele Industrieländer erlebt die Schweiz einen Personalmangel in verschiedenen Sektoren. Die Einwanderung von qualifizierten Arbeitskräften kann einen Grossteil der Nachfrage stillen. Aber das Thema ist politisches Glatteis.
Mehr als 120’000 Stellen waren Ende 2022 unbesetzt, eine Zahl wie es sie seit 2003 nie gegeben hat – und weiter zurück reichen die Zahlen des Bundesamts für Statistik nicht. Dieses Phänomen trifft nicht bloss die Schweiz: Gemäss dem Recruitement-Giganten ManpowerGroup haben drei von vier Unternehmen weltweit Probleme beim Besetzen freier Stellen.
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Akuter Mangel an Arbeitskräften bei Schweizer Unternehmen
Hotellerie, Gastgewerbe, Industrie, Informatik, Bau, Gesundheit, Logistik: Die Branchen, die verzweifelt Personal suchen, sind unterschiedlich und zahlreich. «Alle Wirtschaftssektoren konkurrieren mittlerweile um den gleichen Typ von Kompetenzen. Wenn Sie Informatiker:in oder Auslieferungsfahrer:in sind, haben Sie bei Ihrer Stellensuche die Qual der Wahl», sagt Stefan Studer, Direktor des Verbands «Angestellte Schweiz».
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Welche Arbeitskräfte braucht die Schweiz?
Die starke wirtschaftliche Erholung nach der Pandemie erklärt die Probleme zum Teil. In manchen Branchen, speziell in der Hotellerie, der Gastronomie und der Pflege hat die Pandemie auch die schwierigen Arbeitsbedingungen offengelegt und viele Beschäftigte dazu gebracht, sich beruflich neu zu orientieren.
Möglicherweise ist die aktuelle Situation aber nur ein Vorgeschmack auf die Probleme, mit denen Arbeitgeber:innen in der Schweiz künftig konfrontiert sein werden. Die alternde Bevölkerung und das Erreichen des Pensionsalters der «Babyboomer»-Generation wird vorraussichtlich zu grossen Umwälzungen auf dem Arbeitsmarkt führen.
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Der Fachkräftemangel ist erst der Anfang
Angesichts einer Arbeitslosenquote so tief wie seit 20 Jahren nicht, einer starken Nachfrage nach Arbeitskräften und der kompletten Aufhebung der Pandemiemassnahmen wundert es nicht, dass die Einwanderung in die Schweiz zunimmt.
«Die Schweiz ist für arbeitssuchende Migrant:innen eines der attraktivsten Länder Europas», sagt Philippe Wanner, Professor für Demografie an der Universität Genf. «Und diese Personen sind auf diesem Arbeitsmarkt erfolgreich, der anspruchsvoll ist, aber mit den höchsten Löhnen im europäischen Vergleich lockt.»
Wer darf in der Schweiz arbeiten?
Erwerbstätige aus der EU und EFTA haben einfachen Zugang zum Schweizer Arbeitsmarkt. Für sie gilt das Personenfreizügigkeits-Abkommen (PFZ).
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Das Ende des freien Personenverkehrs?
Beschränkter Zugang für Stellensuchende ausserhalb Europas
Dies gilt besonders für die Gesundheitsbranche: Die Schweizer Spitäler führen im Ausland Rekrutierungskampagne durch, um dem Mangel an Ärzt:innen und Pflegepersonal zu begegnen. «Aber selbst in Polen ist es schwierig genug qualifiziertes Personal zu finden, das bereit ist, in die Schweiz zu gehen», erklärt Grazyna Scheiwiller von Carenea, einem Unternehmen, das sich auf die Vermittlung von Arbeitskräften in Polen spezialisiert hat.
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Wie die Schweiz Pflegepersonal im Ausland rekrutiert
Für Arbeitssuchende von ausserhalb Europas bleibt der Zugang zum Schweizer Arbeitsmarkt hingegen eingeschränkt. Bloss die hochqualifizierten Erwerbstätige aus Drittstaaten (das heisst: von ausserhalb Europas) sind zugelassen.
Arbeitgeber:innen, die eine Arbeitskraft aus einem solchen Land anstellen möchten, müssen beweisen, dass sie keine Person mit derselben Qualifikation in der Schweiz oder im EU/EFTA-Raum gefunden haben. Zudem müssen solche Bewilligungen im Interesse der Schweiz und der Gesamtwirtschaft sein. Die Zahl der Arbeitsbewilligungen für Personen aus Drittstaaten ist auch durch Kontingente beschränkt.
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Arbeitsbewilligung in der Schweiz
Trotz der rekordhohen Zahl freier Stellen bleibt die Frage, ob die Migrant:innen den Schweizer Bürger:innen Arbeit wegnehmen, politisch kontrovers. Die Folgen der Immigration auf Infrastruktur und Umwelt wird von einem Teil der Politik ebenfalls regelmässig kritisiert. Die konservative Rechte hat die Migration zudem zu einem ihrer Hauptthemen für die Kampagne für die Eidgenössischen Wahlen am 22. Oktober 2023 erklärt.
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Die Bevölkerung der Schweiz wächst – aber wie lange noch?
Aufgrund der angespannten Lage in der Migrationspolitik rücken andere Lösungen in den Vordergrund, um zu versuchen, den Mangel an Arbeitskräften zu beheben. Die Wirtschaft will in erster Linie das Potenzial der Einheimischen nutzen. In erster Linie das der Frauen, von denen fast sechs von zehn Teilzeit arbeiten – eine Quote, die in Europa beinahe rekordverdächtig ist.
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«Der Arbeitskräftemangel könnte leicht behoben werden»
In der Bevölkerung gibt es weitere Gruppen mit Potenzial: die Jungen, betagte Personen, geflüchtete Personen oder jene, die Sozialhilfe beziehen. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) und der Schweizerische Verband für Weiterbildung (SVEB) haben kürzlich eine Bildungsoffensive für Sozialhilfeempfänger:innen gestartet. Bislang lag der Schwerpunkt auf der beruflichen Wiedereingliederung.
«Die Erfahrung zeigt, dass die Verbesserung der Kompetenzen zu einer nachhaltigeren Integration in den Arbeitsmarkt führt. Das ist ein Paradigmenwechsel in diesem Bereich», erklärt SVEB-Präsident Matthias Aebischer.
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Jetzt sollen Sozialhilfebezüger:innen den Mangel an Fachkräften stoppen
Der Arbeitskraftmangel ist auch ein Segen für alle, die bereits bei einem Unternehmen festangestellt sind. Bei Lohnverhandlungen haben sie nun die besseren Karten. Da sich das Kräfteverhältnis zu Gunsten der Angestellten und ihren Vertreter:innen verschiebt, könnten Forderungen der Arbeitnehmer:innen in Zukunft an Bedeutung gewinnen.
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«Die Beschäftigten könnten profitieren»
Diese neue Situation führt auch zu einem grösser werdenden Wunsch nach beruflicher Mobilität, insbesondere bei der jüngeren Generation. Auch wenn diese Trend noch nicht so ausgeprägt ist wie in den USA oder Grossbritannien, sehen sich viele Unternehmen dennoch gezwungen, organisatorische und kulturelle 180-Grad-Wendungen vorzunehmen, um junge Talente zu gewinnen und zu halten.
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Übertragung aus dem Französischen: Benjamin von Wyl
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards