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Wenn Katastrophen integrieren

Der Bergsturz von Goldau hat Spuren hinterlassen. picswiss.ch

Kriege und Bedrohungen von aussen festigten das Nationalgefühl anderer Länder. Die Schweiz wurde durch Überschwemmungen, Stadtbrände, Lawinen und Bergstürze zusammengeschweisst.

Der Bergsturz von Goldau (1806) forderte 456 Tote. Der Lerneffekt der grössten Naturkatastrophe der Schweiz ist jedoch mässig.

Gottfried Keller (1819-1890), der Zürcher Maler, Dichter und Staatsschreiber, weilte 39 Jahre nach dem verheerenden Bergsturz von Goldau auf dem Rigi.

Die noch sichtbaren Spuren des todbringenden Bergsturzes im Talkessel hielten Keller nicht davon ab, mit den Augen von der voralpinen Pracht zu trinken, was die Wimper hielt.

Der Rigi liegt gegenüber dem Rossberg, von wo 1806 die todbringenden Steinmassen ins Tal gedonnert waren.

Mark Twain (1835-1910) war 72 Jahre nach dem Bergsturz von Goldau im Katastrophengebiet. Er schrieb 1878: «Ich bin auf dem Rigi (…) Wenn nur nicht alles so unbegreiflich schön wäre.»

Der Berg kommt! Und geht

Die Wunden des Bergsturzes von Goldau heilten. Das Dorf wurde über dem Schuttkegel wieder aufgebaut. Im Bewusstsein der Eidgenossen blieb die Naturkatastrophe in der Zentralschweiz als ein Kommunikations-Ereignis von bisher unbekannter Intensität zurück.

Die Presse verbreitete damals die Nachricht des Bergsturzes in weiten Teilen Europas. Kupferstecher, Zeichner und Maler eilten an die Unglücksstätte und setzten den Horror in Bilder, Gedichte, Romane, Predigten, Katastrophen-Berichte, Musikdramen, Kantaten und Reliefs um.

Der Starke ist längst nicht mehr am mächtigsten allein

Andreas Merian, der von Napoleon eingesetzte Schwyzer Landammann, appellierte nach der Katastrophe von Goldau an das Volk: «Jeder Schweizer wird durch seine Spende zum Beförderer des gemeinen Wohls, die Theilname an demselben, so wie hernach die Dankbarkeit der Getrösteten zum National-Gefühl, und die Eidgenössische Eintracht, die ächte Bruderliebe (…).»

Der Aufruf wirkte. Durch die gesamtschweizerische Sammelaktion kamen 165’000 Franken zusammen, die heute einem Wert von 38 Millionen entsprechen würden.

Bergsturz als Geschichte – Kultur des Schützens als Gegenwart

Der Bergsturz von Goldau ist Geschichte. Seit der Naturkatastrophe vor 200 Jahren hat die Schweiz eine auf der Welt einmalige Kultur des Schützens und des Bewahrens entwickelt.

Kaum ein Land verfügt über mehr Schutzräume pro Einwohner als die Schweiz. Ein dichtes Netz von Gefahrenkarten zeigt, wo im Land Siedlungen, Städte und Agglomerationen von Hochwasser, Lawinen, Rutschungen oder Felsstürzen bedroht sind.

Die administrative Erfassung der Gefahren ist jedoch noch kein Schutz vor denselben. Noch immer werden Teile der Schweiz überschwemmt, es gehen Lawinen nieder und da und dort gibt es Felsstürze.

Der Bergsturz von Goldau und neun weitere Katastrophen, die in den folgenden 100 Jahren folgten, zeigen, wie begrenzt die Versachlichung der Gefahren die Menschen vor Naturgewalten zu schützen vermag.

Helfen mit und ohne Krisenzentrum

Bis 1848 war die Eidgenossenschaft ein loser Staatenbund ohne nationale Leitstelle, die bei grossen Naturkatastrophen koordinierend hätte aktiv werden können.

Und auch nach der Gründung des Bundesstaates (1848) vergingen Jahrzehnte, bevor anlässlich einer Revision der Bundesverfassung (1874) eine zentrale Anlaufstelle für Krisen im Grundgesetz fest geschrieben wurde.

Katastrophen werden rasch ins kollektive Unterbewusstsein befördert, und der nachhaltige Lerneffekt ist bis heute beschränkt geblieben. Der Übergang von Naturkatastrophen zu Tragödien, die von Menschen verursacht wurden und werden, ist – trotz des enormen Zuwachses an Wissen – fliessend.

Wenn der Mensch Naturkatastrophen macht

53 Jahre nach dem Bergsturz von Goldau gingen 1881 zehn Millionen Kubikmeter Gestein auf die Gemeinde Elm im Glarnerland nieder und töteten 114 Menschen.

Der renommierte Geologe Albert Heim stellte als Ursache des Bergsturzes den unprofessionellen Betrieb eines Schieferbergwerkes oberhalb des Dorfes und die «unglaubliche Sorglosigkeit der Verantwortlichen» fest.

Auch 200 Jahre nach Goldau wird in der Schweiz in gefährdeten Gebieten gebaut und gesiedelt. Die Gefahrenkarten hinken hinter der Natur und ihren Gefahren her.

Wie das Bundesamt für Umwelt (BAFU) berichtet, sind in der Schweiz zur Zeit 66% der lawinengefährdeten Flächen erfasst. Für Gefahren, die von Hochwasser ausgehen, sind landesweit 30% erfasst, für Felsstürze sind es 29% und für Rutschungen 23%.

Gefahren beschreiben – Gefahren verhindern?

Der Bund unterstützt die Kantone, damit die Gefahrenkarten bis ins Jahr 2011 für die ganze Schweiz vollständig vorliegen. Gefahrenkarten dienen primär der Ausscheidung von Gefahrenzonen als Grundlage für die Formulierung von Bauauflagen.

Beim Hochwasser vom August 2005 haben sich die bestehenden Gefahrenkarten bewährt.

swissinfo, Erwin Dettling, Goldau

Der Bergsturz von Goldau am 2. September 1806 war eine der grössten Naturkatastrophen in der Schweiz.

Rund 40 Mio. Kubikmeter Felsmassen fegten vom Rossberg hinunter über das Dorf und seine Einwohner. 457 fanden den Tod, nur 14 konnten lebend gerettet werden.

Nach der Katastrophe setzte eine bisher einmalige Welle der Solidarität ein. Spenden kamen aus ganz Europa.

Das heutige Goldau wurde auf dem Schuttkegel wieder aufgebaut.

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