Wie viel Reichtum erträgt eine Gesellschaft?
Jeder zehnte Milliardär der Welt wohnt in der Schweiz. Zudem weisen 210‘700 im Land lebende Personen ein Anlagevermögen von über einer Million US-Dollar aus. Ein Soziologenteam der Uni Basel präsentiert nun eine Studie zum Thema "Reiche in der Schweiz".
Sind Sie reich? Laut dem Basler Soziologieprofessor Ueli Mäder und seinen beiden wissenschaftlichen Mitarbeitenden Sarah Schilliger und Ganga Jey Aratnam brauchen sie dazu mindestens 30 Mio. Franken Vermögen. Ab 100 Millionen gehören Sie dann zum Club der Superreichen.
Die Soziologen haben mit ihrer Studie «Wie Reiche denken und lenken» hinter die Kulissen des Reichtums in der Schweiz geschaut. Das Land gilt weltweit als eines der reichsten, weist es doch – nach Singapur und Hongkong – die dritthöchste Millionärsdichte der Welt auf.
Wo und wie leben die Reichen und Superreichen? Wer sind sie? Wie stehen sie zu den sozialen Gegensätzen? Mit der Beantwortung dieser Fragen und der Beleuchtung der historischen Entstehung sowie der gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Bedeutung des Reichtums legen die Wissenschaftler ein interessantes Buch zum Phänomen Reichtum in der Schweiz vor.
Die Studienmacher haben mit Reichen Gespräche geführt, sie besuchten ihre Wohnorte, beobachteten, wie sie leben, wo sie ihre Kinder zur Schule schicken, wie sie ihre Freizeit verbringen. Befragt wurden weiter Personen aus dem Umfeld der Reichen, Angestellte und Experten. Ausserdem wurden wissenschaftliche Daten ausgewertet und Medienbeiträge analysiert.
Reichtum und Macht
Reichtum und Macht erscheinen vielen Menschen als eineiige Zwillinge. Bestätigt die Studie diesen Eindruck? Sarah Schilliger sagt dazu gegenüber swissinfo.ch: «Ganz klar. Kapitalbesitz bedeutet Macht. In der Schweiz sitzen die Reichsten jedoch nicht unbedingt an den mächtigsten Stellen. Mit dem neuen Bundesrat Johann Schneider Ammann sitzt aber ein Superreicher im Bundesrat.»
Sie weist darauf hin, dass Macht auch durch Einflussnetze und via verschiedene Organisationen ausgeübt wird.
Und Ueli Mäder ergänzt: «Ich habe mit einzelnen Bankpräsidenten gesprochen und wahrgenommen, dass es gezielte, ausgeklügelte Strategien gibt, Politiker so ‹gut› zu informieren, dass es für einen selbst auch Früchte trägt. So habe ich den Eindruck gewonnen, dass Macht recht gezielt wahrgenommen wird. Und dass dieses Beispiel nur die Spitze eines Eisbergs sein könnte, ist eine Vermutung, die ziemlich nahe liegt.»
Geschützter Reichtum
In der Schweiz versteuern 3% der Bevölkerung gleich viel Vermögen wie die restlichen 97%. Die kleine Minderheit profitiert überproportional vom bestehenden Erbrecht oder der tiefen Vermögenssteuer. Wie kommen solche Entscheide an der Urne zustande?
Für Ueli Mäder eine interessante Frage: «Es hat auch Reiche gegeben, die mich gefragt haben, weshalb eine Mehrheit der Bevölkerung für die Abschaffung einer Erbschaftssteuer ist, die doch für 80% der Bevölkerung hilfreich sein könnte.»
Es scheine eine Hoffnung zu geben, dass, wenn es den Reichen gut gehe, von den Brosamen auch etwas auf die Bevölkerung entfalle, meint er.
Sarah Schilliger deutet dieses Phänomen ähnlich: «In der Schweiz gilt die Auffassung, dass man es vom Habenichts zum Millionär schaffen kann. Und das verschafft natürlich auch dem Reichtum in dieser Gesellschaft eine enorme Legitimität. Dies führt zu einer Anerkennung sozialer Ungleichheit, die eigentlich für uns Soziologinnen und Soziologen eher unverständlich ist», so Schilliger.
Warum ist die Schweiz so reich?
Obwohl die kleine Schweiz keine nennenswerten Bodenschätze besitzt, ist sie ein reiches Land. Ist das der Verdienst der pünktlichen, fleissigen, sparsamen Schweizer?
Sarah Schilliger teilt diese Idealvorstellung nicht: «Historisch gesehen ist die Schweiz, auch wenn sie keine Kolonialmacht war, durch den Kolonialismus reich geworden», erklärt sie. Es gebe viele Schweizer, die vom Abschöpfen der Ressourcen in den Ländern des Südens profitiert hätten.
Zudem sei die Schweiz seit ihrem Bestehen kaum von Kriegen heimgesucht worden. «Weil sie sich meistens aus Konflikten heraushalten konnte, hat der Reichtum hier auch eine grosse Kontinuität, verglichen beispielsweise mit Deutschland.»
Die Ansiedlung vieler multinationaler Unternehmen wie Nestlé oder Novartis ist für Schilliger ein weiterer Baustein für den Reichtum im Land. «Ihre Arbeitskräfte im Ausland tragen viel zur Anhäufung von Reichtum hier bei. Man könnte sagen, die Schweiz sei eine der grössten Profiteurinnen der Globalisierung.»
Nicht jeder profitiert
Die Globalisierung erweist sich aber nicht für alle Schweizerinnen und Schweizer als goldene Gans. Seit Mitte der 1970er-Jahre hat im Land die Ungleichheit bei der Verteilung des Wohlstands wieder zugenommen – obwohl die Ausgaben für Sozialausgaben seither angestiegen sind.
Ueli Mäder hält dagegen: «Nur in absoluten Zahlen. Wenn wir diese jedoch in Beziehung zum Bruttoinlandprodukt setzen, was ja die viel grössere Summe ist, müssen wir leider feststellen, dass seit dem Jahr 2004 die Anteile der Ausgaben im Sozialbereich zurückgegangen sind.»
Diese seien in der Schweiz eh schon relativ tief, obwohl das Land ein Sozialwesen habe, das im internationalen Vergleich recht gut da stehe. «Aber es hält mit dem Wandel der sozialen Probleme nicht Schritt. Es orientiert sich an den Voraussetzungen klassische Familie, Vollbeschäftigung, einmal Arbeit, immer Arbeit. An Voraussetzungen also, die je länger je weniger zutreffen. Und das bringt immer mehr Personen in Bedrängnis.»
Perspektiven
Die Studie schlägt auch Massnahmen vor, wie diese unheilvolle Entwicklungen zu stoppen wären. «Wir haben formuliert, dass wir vermehrt eine progressive Besteuerung der Vermögen haben müssten und eine Erbschaftssteuer. Zudem empfehlen wir auch andere Formen des sozialen Ausgleichs, wie höhere Löhne bei den unteren Einkommen.», sagt Sara Schilliger.
Ueli Mäder: «Man muss mehr tun für den sozialen Ausgleich. Die soziale Schere hat sich schon weiter geöffnet, als ich es für möglich gehalten hätte.»
Für die Gesellschaft sei das sehr problematisch. «Wie viel Reichtum erträgt eine Gesellschaft, wenn es so weiter geht mit der einseitigen Aneignung?»
In der Schweiz lebt ein Promille der Weltbevölkerung, das über ein Prozent des gesamten weltweiten Sozialprodukts verfügt.
Bei den Exporten liegt die Eidgenossenschaft weltweit auf Rang 20, bei den Importen auf Platz 19
In der Schweiz verfügt jeder 40. der 7,5 Mio. Einwohnerinnen und Einwohner über 1,2 Mio. Franken.
3% der privaten Steuerpflichtigen haben gleich viel Nettovermögen wie die restlichen 97%.
85% haben weniger als 100’000 Franken Nettovermögen. Sie besitzen zusammen 6% aller Vermögen.
Die Vermögen der 300 Reichsten stiegen laut Bilanz in zwanzig Jahren von 86 Mrd. Franken auf 449 Milliarden (2009).
Die Schweiz ist mit einem Marktanteil von 27% und einem verwalteten Vermögen von 2100 Mrd. Dollar der grösste Offshore-Finanzplatz der Welt
Geboren 1951
Studium der Soziologie, Psychologie und Philosophie, Grundausbildung in Psychotherapie.
Geschäftsleitung einer Entwicklungsorganisation, Dozent an der Hochschule für Soziale Arbeit Freiburg.
Seit 2005 Ordentlicher Professor für Soziologie an der Universität Basel, Dekan der Philosophischen-Historischen Fakultät.
Generalsekretär der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie.
Ueli Mäder, Ganga Jey Aratnam, Sarah Schilliger
Wie Reiche denken und lenken»
Rotpunktverlag
ISBN 978-3-85869-428-7
448 Seiten, 38 Franken
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