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Wie Volksentscheide das Europa-Projekt geprägt haben

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Europa, ja oder nein? Viele EU-Bürger durften bereits mitreden. Keystone / Bartlomiej Zborowski

Die Schweiz ist nicht die einzige Nation, in deren Geschichte es zu Abstimmungen über Europa gekommen ist. Im vergangenen halben Jahrhundert wurden Stimmbürgerinnen und Stimmbürger in fast 30 Ländern über 60 Mal aufgefordert, Ja oder Nein zu "mehr" Europa zu sagen. Mittlerweile sind Bemühungen im Gange, einen europaweiten Referendumsprozess zu etablieren.

Die Bildsprache vor der Abstimmung vom 27. September in der Schweiz über die Begrenzung der Einwanderung im Rahmen des Personenfreizügigkeitsabkommens mit der Europäischen Union (EU) ist gewohnt grob.

Das Plakat der Anti-EU-Kampagne kommt als Cartoon daher und zeigt einen Arbeiter in blauer Hose, der einen mit EU-Sternen besetzten Gürtel trägt und mit seinem breiten Hintern die rot-weisse Karte der Schweiz zerquetscht.

Mit diesem Bildmaterial versuchen die Kräfte, die hinter der Volksinitiative für eine «massvolle» Zuwanderung stehen, aufzuzeigen, welchen Druck das vor über 20 Jahren mit der EU unterzeichnete Personenfreizügigkeitsabkommen auf den Schweizer Arbeitsmarkt ausübt.

Verschiedene Aspekte des Abkommens waren seit seiner Unterzeichnung Gegenstand von Debatten, sowohl im Parlament als auch in der Bevölkerung. 67,5% der Stimmenden hatten dem ursprünglichen Abkommen zugestimmt. Doch verschiedene Ausweitungen des Geltungsbereichs – vor allem in Bezug auf die neuen EU-Staaten in Zentral- und Osteuropa – fanden in den 2000er-Jahren bei Volksabstimmungen geringere Mehrheiten von 53-59%.

Im Jahr 2014 wurde eine Initiative zur Einschränkung der Personenfreizügigkeit (die «Masseneinwanderungsinitiative») mit einer hauchdünnen Mehrheit angenommen. Dies löste eine Reihe von Bemühungen zur Feinabstimmung des heiklen institutionellen Vertrags zwischen Brüssel und Bern aus – Änderungen, welche auch die nun bevorstehende Abstimmung vom 27. September beflügelten. Es wird das 12. Mal sein, dass die Schweizer Stimmbevölkerung an der Urne über eine Europa-Frage entscheiden wird.

«Die Schweiz ist sehr europäisch – und Europa ist viel schweizerischer geworden»

«Kein anderes Land in Europa bietet so viele Instrumente und Verfahren für ein direktes Engagement der Bürger bei der Entscheidungsfindung wie die Schweiz», sagt Zoltan Pallinger, Professor für Politikwissenschaft an der Andrassy-Universität in Budapest.

Zusammen mit Kollegen aus ganz Europa hat Pallinger zu einem umfassenden Bericht beigetragenExterner Link, der von der Europäischen Kommission in Auftrag gegeben wurde, um die künftige Nutzung der direkten Demokratie in und auf Europa einzuschätzen. «Wenn es um die EU geht, ist die Schweiz in der Tat sehr europäisch – und Europa ist viel schweizerischer geworden», sagt Pallinger und verweist auf die Tatsache, dass seit 1972 in fast 30 Ländern landesweite Abstimmungen zu Fragen der europäischen Integration stattgefunden haben.  

Die Vorläufer der heutigen EU (die diesen Namen 1993 erhielt) waren die 1952 gegründete Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (1957). Die Gründungsväter dieses Prozesses, der darauf abzielte, eine Wiederholung der Konflikte zu verhindern, die zu den Weltkriegen geführt hatten, waren aber nicht gross daran interessiert, die Bürger direkt in den Prozess einzubeziehen. Ihr Projekt richtete sich gegen die nationalistischen Gefühle, die in der Vergangenheit zu Gewalt geführt hatten, es war ein Ziel, das bei den meisten Nachkriegseuropäern grosse Legitimität genoss.

Doch Anfang der 1960er-Jahre begann der französische Präsident Charles de Gaulle zu verstehen, dass jede weitere Integration auf europäischer Ebene die direkte Zustimmung der Bürger und Bürgerinnen erfordern würde. «Europa wird an dem Tag geboren, an dem sich die verschiedenen Völker grundsätzlich für einen Beitritt entscheiden. Dies wird Volksabstimmungen erfordern», sagte de Gaulle.

Verfassungsmässig vorgeschrieben – oder einfach angemessen

Tatsächlich war es Frankreich, das am 23. April 1972 das erste landesweite Referendum über Europa organisierte. Noch im selben Jahr konnten sich aber auch die Stimmberechtigten in Irland, Norwegen, Dänemark und in der Schweiz zum Thema Europa äussern. Nach dieser ersten europäischen Öffnung für direkte Demokratie erhielten schliesslich mehr und mehr Menschen die Möglichkeit, zu Entscheidungsträgern zu werden.

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«Wir haben unterschiedliche Arten und Logiken gesehen, was Referenden in Europa angeht «, sagt der Zürcher Universitätsforscher Fernando Mendez, ein Ko-Autor der Studie der Europäischen Kommission. «Viele Abstimmungen sind verfassungsrechtlich vorgeschrieben – zum Beispiel in Irland – während andere einfach angemessen sind, zum Beispiel wenn ein Land Mitglied werden will».

Andere Abstimmungsverfahren, die durch eine Bürgerinitiative ausgelöst werden oder von einer unter Druck stehenden Regierung aufs Tapet gebracht werden, wie zum Beispiel als der britische Premierminister David Cameron beschloss, ein beratendes Plebiszit durchzuführen, das schliesslich zum Brexit führte, «sind viel heikler», sagt Fernando Mendez. «Die Konsequenzen können für verschiedene politische Interpretationen offen sein.»

Insgesamt gesehen hat historisch die Mehrheit, etwa zwei Drittel, der landesweiten Volksabstimmungen über Europa den darin vorgeschlagenen Integrationsschritten zugestimmt.

«Wir haben mindestens drei grosse Vorteile gefunden, wenn man die Bürgerinnen und Bürger über Europa-Fragen entscheiden lässt», sagt Alois Stutzer, Professor für politische Ökonomie an der Universität Basel. «Das Projekt Europa gewinnt an Legitimität, der Weg der Integration entspricht den Präferenzen des Volkes und die Bürgerinnen und Bürger eignen sich Kenntnisse des Themas an.»

Was diesen letzten Punkt angeht, zeigte Stutzers Forschung, dass ein durchschnittlicher Schweizer Bürger über gewisse europäische Themen besser informiert ist als ein durchschnittliches Mitglied des deutschen Parlaments.

Wie viele Europawissenschafter würde auch Stutzer es begrüssen, wenn ein europaweiter Referendumsprozess eingeführt würde. «Ein solch transnationales Volksabstimmungsverfahren würde die EU eindeutig stärken und sie in die Lage versetzen, grosse globale Herausforderungen besser bewältigen zu können», sagt er.

Ein solches Projekt könnte aber auch, «eine Dosis menschliches Drama in die technokratische Maschinerie der EU-Integration injizieren», wie der irische EU-Korrespondent Dan O’Brien bemerkte.

Die Zukunft Europas – und die moderne direkte Demokratie

Das 62. landesweite Referendum in Europa zu einer Europa-Frage findet in der Schweiz am 27. September statt. Sie erfolgt zu einem Zeitpunkt, an dem die europäische Geschichte an einem weiteren Scheideweg steht. Der Block der 27 EU-Mitgliedstaaten hofft, noch dieses Jahr den schmerzhaften Prozess des Brexit zum Abschluss bringen zu können und die Konferenz über die Zukunft Europas voranzubringen, den ersten Verfassungsrevisionsprozess seit dem Konvent zur Zukunft Europas 2002-2003.

«Wir wollen die aktive Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an diesem Prozess fördern», sagte die kroatische Staatssekretärin für Europäische Angelegenheiten, Andreja Metelko-Zgombić, bei der Eröffnung der KonferenzExterner Link am Anfang dieses Sommers. Doch obschon sowohl normative als auch empirische Gründe für den Einsatz eines Volksabstimmungsprozesses in der EU-Politik sprechen, sind viele führende Politiker*innen, vor allem aus den dominanten politischen Lagern der Sozialdemokraten und der Konservativen, nach wie vor skeptisch, wenn es darum geht, die Macht über Europa mit den Stimmberechtigten zu teilen.

Vor zwei Jahrzehnten hatte der Konvent zur Zukunft Europas – selbst die Konsequenz einer Volksabstimmung, des irischen «Neins» zum Vertrag von Nizza – über die Einführung einer Reihe von Initiativ- und Referendumsinstrumenten auf EU-Ebene diskutiert. Am Ende war eine Mehrheit der Mitglieder des KonventsExterner Link für diese Reformen, doch der Vorsitzende, der ehemalige französische Präsident Valéry Giscard D’Estaing, ein Torwächter für Regierungen der Mitgliedstaaten, legte sein Veto dagegen ein.

Stattdessen schlug Giscard d’Estaing die Einrichtung eines gesamteuropäischen Instruments für Bürgerinitiativen vor, bei dem sich eine Million Bürgerinnen und Bürger aus mindestens sieben verschiedenen Mitgliedstaaten zusammenschliessen könnten, um der Europäischen Kommission Gesetzesvorschläge zu unterbreiten. Ein «Babyschritt in Richtung einer transnationalen direkten Demokratie», wie Maja Setäla, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Turku in Finnland, es beschreibt.

Seit dieses Instrument schliesslich 2012 eingeführt wurde, wurden etwa 100 Europäische BürgerinitiativenExterner Link lanciert. Einer der ersten Vorschläge dieser Art wollte, dass die Europäische Kommission die Personenfreizügigkeit mit der Schweiz beendetExterner Link. Eine Frage, über welche die Schweizer Stimmberechtigten nun am 27. September an der Urne entscheiden werden.

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