Von der Königin des Baghwan zur Behindertenbetreuerin
Einst war sie die engste Vertraute des legendären Gurus Baghwan. Heute hat sich Sheela Birnstiel – alias Ma Anand Sheela – in der Schweiz eine neue Existenz als Betreuerin für Behinderte geschaffen. Ihren Ruf als mutmassliche Vordenkerin eines Bioterror-Anschlags in den USA hat sie hinter sich gelassen. Eine Homestory.
Wer im Dorf Maisprach ankommt, befindet sich in der ländlichen Schweiz. Das gelbe Postauto, das ältere Frauen mit Einkaufstaschen und Schulkinder transportiert, die zum Mittagessen nach Hause zurückkehren, bringt mich in die Nähe des Dorfzentrums. Ein Schild an der Bushaltestelle zeigt den Weg nach Matrusaden, dem Behindertenheim von Sheela.
Der Weg führt einer schmalen Strasse entlang durch grüne Felder und schlängelt sich bergauf zu einer kleinen Schlucht. Ein weiteres Matrusaden-Schild ragt aus einem Laub-Teppich hervor. Ich habe immer mehr Angst, die berüchtigte Sheela zu treffen. Sheelas Eintrag auf WikipediaExterner Link tut ihr keinen Gefallen:
«Ma Anand Sheela (* 28. Dezember 1949 in Baroda, Indien) war von 1981 bis 1985 die Sekretärin, Sprecherin und ‹rechte Hand› des Gurus Bhagwan Shree Rajneesh (Vgl. Box). Im September 1984 stiftete Ma Anand Sheela eine ihrer Gruppen zu einem Anschlag an, bei dem in verschiedenen Restaurants des Städtchens The Dalles die Salatbars mit Salmonellen verseucht wurden und 751 Einwohner erkrankten.
Es gab keine Todesopfer, aber 47 Personen mussten stationär behandelt werden. Der Anschlag gilt als erster Bioterror-Anschlag des 20. Jahrhunderts.(…) Am 28. Oktober 1985 wurde Sheela in der Bundesrepublik Deutschland verhaftet und nach Oregon überführt. Anfang 1986 wurde sie zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt.»
In Wahrheit waren es 39 Monate. Sheela Birnstiel hat das Verbrechen nie gestanden. Auch heute noch lässt sie, wer sie darauf anspricht, im Vagen. Ganz so, als ob es eine innere Wahrheit gäbe und eine äussere, die beide friedlich nebeneinander existieren. Das entspräche der Wahrnehmung, die von Baghwan geblieben ist, diesem Guru, auch bekannt als Osho, dessen engste Vertraute Sheela lange war.
Hat Baghwan seine Sektenjünger, die Sanyasins, sexuell und finanziell ausgebeutet – für sein dekadentes Leben in Luxus, als Menschenfänger, wie Kritiker sagen? Oder gab er ihnen mit der Lehre von Enthaltsamkeit und fernöstlichen Weisheiten einen Sinn, den sie sonst im Leben nicht gefunden hätten, als spiritueller Meister?
Ich erklimme den Hügel und erblicke das Haus. Auf dem Parkplatz stehen mehrere Fahrzeuge. Ich höre meinen Namen rufen. Zwei Frauen kommen aus dem Haus, rufen meinen Namen und winken mich herein. Sheela ist eine von ihnen.
Ich bin erstaunt, wie gebrechlich sie aussieht, aber das liegt daran, dass die Fotos und Videos, die ich gesehen hatte, vor Jahrzehnten aufgenommen wurden. Heuer wird sie 70 Jahre alt.
Demenz-Tempel
Im Innern des Gebäudes entdecke ich ein grosses Foto eines bärtigen Mannes. Mein erster Gedanke, es handle sich um Sheelas ehemaligen Guru, Rajneesh, erweist sich bei näherer Betrachtung als Irrtum. Sheela erzählt mir, dass es ein Foto ihres Vaters sei. Daneben hängt ein Bild ihrer Mutter. Sheela nennt die beiden Häuser ihres Behindertenheims «Matrusaden» (Mutterhaus) und «Bapusaden» (Vaterhaus), zu Ehren ihrer verstorbenen Eltern.
Ich werde ins Büro geführt. Die Büromöbel und Computer für die Verwaltungsarbeit sind von Betten der Patienten umgeben. Sheela nennt den Raum «Demenz Mandir» oder Demenztempel. Hier übernachten die schwerstbehinderten Patienten, damit sie sich nicht isoliert fühlen. Es gehört zu ihrer Strategie, das Sterben zu normalisieren, indem die Bewohner dem Tod anderer Patienten im Raum ausgesetzt werden.
«Viele geistig behinderte Menschen haben grosse Angst vor dem Tod. Sie sollten damit in Kontakt kommen, um zu sehen, dass es nichts ist, wovor sie sich fürchten müssen», sagt Sheela.
Die meisten Patienten befinden sich im sonnenverwöhnten Wintergarten am anderen Ende des Hauses. Sie sind mit ihren Malbüchern beschäftigt. Einer nach dem anderen stellt sich vor und schüttelt mir die Hand. Viele wurden im Ausland in Ländern wie Brasilien, der Türkei, Sri Lanka, Vietnam, Serbien, Deutschland, Österreich und Indien geboren. Der jüngste ist 42, der älteste 83.
Die meisten leben seit über einem Jahrzehnt in Matrusaden. Aufgenommen werden Patienten zwischen 18 und 64 Jahren. Bleiben können sie aber so lange wie nötig.
Matrusaden ist eine gemeinnützige Stiftung. Die Patienten erhalten staatliche Unterstützung, um die monatlichen Kosten von 8500 Franken für ihre Pflege ganz oder teilweise zu decken.
«Wir sind bekannt für den Umgang mit schwierigen Patienten, die aufgrund ihrer Behinderung keinen Platz in anderen Instituten gefunden haben. Wir haben Patienten, die zuvor in 15 anderen Heimen waren» sagt Sheela.
Die einzigen Patienten, die Sheela abweist, sind Drogenabhängige und Tetraplegiker. Für erstere fühlt sie sich nicht zuständig und letztere erfordern eine spezielle Infrastruktur, die sich in einem kleinen Haus kaum einrichten lässt.
Im ganzen Heim gibt es keinen einzigen Bereich, wo Patienten ausgeschlossen werden. Sie können jeden Raum betreten, sogar Sheelas Schlafzimmer, das sich im ersten Stock des Hauses befindet.
Ein grosses Foto zieht meinen Blick auf sich. Es zeigt Sheela, die Baghwan Champagner serviert. Mir fällt es schwer zu verstehen, weshalb sie immer noch Zuneigung zu dem Mann hat, der ihr die Schuld für die Durchführung der Terroranschläge gegen die amerikanische Regierung und die Kommune gab. Dessen Anschuldigungen führten dazu, dass Sheela 39 Monate hinter Gittern verbrachte.
«Mein Charakter wurde von Bhagwan und dessen Leuten sowie der Regierung Oregons getötet. Ich versuchte, dies zu verarbeiten und hatte keine Ahnung, was ich tun würde, wenn ich aus dem Gefängnis komme. Als ich es schliesslich tat, war ich ungeeignet für die Aussenwelt», sagt Sheela.
Nachdem sie ihre Haftstrafe verbüsst hatte, verliess sie die USA in Richtung Deutschland, wo ihr die Einreise verweigert wurde. Deutschland hatte Sheela 1985, nachdem diese Oregon und die Kommune zum ersten Mal verlassen hatte, festgenommen und an die USA ausgeliefert. Nach einem kurzen Aufenthalt in Portugal liess sich Sheela 1989 in der Schweiz nieder.
Die Schweizer Staatsbürgerschaft hatte sie bereits 1984 durch ihre Heirat mit einem Schweizer Bürger erworben, der für die Rajneeshpuram-Kommune in Zürich verantwortlich war. Ihr Mann starb, als sie ihre Haftstrafe in den USA absitzen musste, so dass sie niemanden hatte, auf den sie sich verlassen konnte. Ein deutscher Anwalt, mit dem sie eine Affäre hatte, weigerte sich, seine Frau zu verlassen und ein neues Leben mit ihr zu beginnen.
«Ich stand immer noch unter Schock wegen meines früheren Lebens und stellte mich auf eine neue Umgebung ein. Es war eine sehr intensive Zeit», erinnert sie sich.
Schliesslich fand sie eine Stelle als Haushälterin bei einem älteren Paar in Basel.
«Es fühlte sich gut an, weil ich meine Eltern sehr vermisste. Das alte Paar war in den Achtzigern und half mir, mein Herz zu beruhigen», sagt sie.
Später mietete sie ein Haus und nahm 1990 sechs ältere behinderte Patienten auf. Sie baute sich einen Ruf als kompetente Pflegekraft auf und zog fünf Jahre später an einen grösseren Ort, wo sie für 16 Patienten verantwortlich war.
«Damals gab es noch keine Bildungsvoraussetzungen. Man sah, dass ich gute Arbeit leistete, und liess mich 18 Jahre lang allein arbeiten.»
Als schliesslich gesetzliche Bestimmungen für die Betreuung von Behinderten eingeführt wurden, musste Sheela laut eigenen Angaben hart arbeiten, um die Anforderungen zu erfüllen. Im Jahr 2008 wurde ihr Haus staatlich anerkannt, aber die Philosophie hinter der Betreuung basiert auf persönlicher Intuition und Lebenserfahrung.
«Das Gefängnis war meine höchste Qualifikation. Ich betrachte es nicht als reine Zeitverschwendung. Dort lernte ich, Geduld zu haben, den Wert der Zeit zu erkennen und meine eigene Realität besser zu akzeptieren. Das sind die Kompetenzen, die ich in meiner Arbeit anwende», erklärt sie.
Zurück im Rampenlicht
Sheela blieb während ihrer ersten drei Jahre in der Schweiz ziemlich anonym. Sie versteckte sich nicht, aber niemand hatte die Verbindung zwischen Sheela, der Betreuerin, und der umstrittenen Ma Anand Sheela der Rajneeshpuram-Kommune hergestellt. Das änderte sich, als ein Journalist einer Regionalzeitung sie kontaktierte, um einen Artikel über Seniorenheime zu schreiben.
«Nachdem ich ihm ein zweistündiges Interview gegeben hatte, rief mich der Journalist später nochmals an und sagte, dass mein Gesicht und mein Name bekannt seien. Als ich seine Vermutung bestätigte, dass ich die Rajneeshpuram-Sheela sei, schrieb er einen Artikel über mich anstatt über Seniorenheime. Deshalb wurde ich in der Öffentlichkeit wieder bekannt.»
Dass ihre Tarnung aufflog, hat sie nicht gestört, weil sie sich nie vor ihrer Vergangenheit scheute.
«Es ist eine Krone, die ich noch heute trage und für die ich mich nie schämen musste. Es war mir eine Ehre, mit Männern wie Bhagwan zusammenzuleben. Er hatte grossen Einfluss auf meine Lebenserfahrung, was wiederum meine Arbeit beeinflusste», sagt sie.
Mit der Betreuung der 29 Patienten in den beiden Pflegehäusern ist sie voll ausgelastet.
«Ich denke, das Leben in der Rajneeshpuram-Kommune war eine nützliche Erfahrung.» Wenn man so einen riesigen Ort verwaltet hat, kommt einem ein Heim wie dieses als Bagatelle vor», sagt sie.
Am Nachmittag kehrt Sheelas Schwester von einer Einkaufstour zurück. Sie freut sich nicht über den Besuch von swissinfo.ch.
«Ich denke, Journalisten sind Menschen, die nicht für ihren Lebensunterhalt arbeiten können, sondern mit dem Leben anderer Menschen Geld verdienen. Das ist schon so lange her und doch können die Medien sie nicht in Ruhe lassen», sagt sie.
Ich kann ihre Feindseligkeit verstehen. Sheela gibt offen Auskunft über ihr Leben. Was für Journalisten ein Traum, kann für Familienangehörige ein Alptraum sein.
Trotzdem habe ich noch eine letzte Frage: Welche Bedeutung hat das Heim für Behinderte in ihrem Leben im Vergleich zum Leben in der Rajneeshpuram-Kommune?
«Seitdem ich Bhagwan verlassen habe, ist alles, was ich tue, mein eigenes Kind. Ich bin stolz, sagen zu können, dass sein Training nützlich war. Die Rajneeshpuram-Kommune war Bhagwans Lebenswerk. Aber Matrusaden ist das Werk von mir und meinem Team. Ich bin glücklich mit meinen beiden Vermächtnissen: mit und ohne Bhagwan.»
Der unter dem Namen Osho oder Bhagwan Shree Rajneesh bekannte spirituelle Guru aus Indien hatte ab den 1970er-Jahren eine Fangemeinde in Mumbai. Später zog er nach Pune, wo seine Anhänger einen Rückzugsort für ihn bauten. Er wurde bekannt für seine Predigten gegen die religiöse Orthodoxie. 1981 ernannte er die gebürtige Inderin Sheela zu seiner Sekretärin. Sie wurde damit beauftragt, einen neuen Standort für die Kommune zu finden. In Oregon (USA) wurde eine Ranch für knapp 6 Millionen Dollar gekauft und in Rajneeshpuram umbenannt. Es wurde das Hauptquartier des Rajneesh-Imperiums.
Die Kommune geriet bald in Konflikt mit Einheimischen, die sich am alternativen Lebensstil der rot gekleideten Rajneesh-Schüler störten. Um die Hürden für ihre Bauprojekte zu überwinden, gelang es der Kommune, ihre Mitglieder in die Kommunalverwaltung zu wählen. 1985 verliess Sheela die Gemeinde mit der Begründung, sie könne Rajneeshs Forderungen nach Rolls-Royce und teuren Uhren nicht erfüllen. Nach ihrer Abreise brach Rajneesh sein Schweigegelübde und beschuldigte Sheela und deren engste Helfer, die Anwohner mit Salmonellenbakterien vergiftet zu haben, um das Ergebnis der Kommunalwahl zu beeinflussen. Er behauptete auch, sie habe der Gemeinde 55 Millionen Dollar gestohlen.
Sheela wurde in Deutschland festgenommen und in die USA ausgeliefert, wo sie unter anderem wegen versuchten Mordes angeklagt wurde. Sie bekannte sich schliesslich des Einwanderungsbetrugs und des illegalen Abhörens von Telefongesprächen für schuldig und verbüsste 39 Monate ihrer 20-jährigen Haftstrafe. Rajneesh wurde ebenfalls kurzzeitig verhaftet, aber lediglich wegen Einwanderungsbetrugs zu einer 10-jährigen Bewährungsstrafe und zur Ausreise aus den USA verurteilt. Nach einigen Jahren des Nomadenlebens kehrte er 1987 in sein ursprüngliches Rückzugsgebiet in Pune zurück und starb drei Jahre später im Alter von 58 Jahren.
Ein Dokumentarfilm mit dem Titel Wild Wild Wild CountryExterner Link über Rajneesh, Sheela und die Rajneeshpuram-Kommune in Oregon wurde dieses Jahr veröffentlicht.
(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)
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