175 Jahre Bundesverfassung: «Die Demokratie ist heute nicht in bester Verfassung»
Die Bundesverfassung feiert dieses Jahr ihr 175-jähriges Bestehen. Doch ihre Wurzeln reichen viel weiter in die Vergangenheit zurück, wie der Historiker und Jurist Olivier Meuwly in seinem jüngsten Buch darlegt.
Bücher für eine breite Öffentlichkeit, die sich mit der schweizerischen Verfassungsgeschichte befassen, sind dünn gesät. Das letzte Standardwerk namens Petite histoire constitutionnelle de la Suisse des Neuenburger Juristen und Politikers Jean-François Aubert stammt aus den 1970er-Jahren.
Nach einer Wartezeit von fast einem halben Jahrhundert ist nun eine modernere Synthese verfügbar. Das Buch Une brève histoire constitutionnelle de la SuisseExterner Link (Eine kurze Verfassungsgeschichte der Schweiz) des Waadtländer Historikers und Juristen Olivier Meuwly kommt genau zum richtigen Zeitpunkt – wird doch dieses Jahr der 175. Jahrestag der Verfassung von 1848 gefeiert, welche die Geburtsstunde der modernen Schweiz markierte.
SWI swissinfo.ch: Man könnte erwarten, dass Ihre Verfassungsgeschichte mit der ersten Verfassung von 1848 beginnt. Doch Sie gehen viel weiter zurück. Weshalb?
Olivier Meuwly: Ich behaupte nicht, dass es eine fast schon mechanische Kontinuität zwischen den Landsgemeinden der alten Eidgenossenschaft und den Verfassungen der Gegenwart gibt. Das ist eindeutig nicht der Fall. Dennoch ist diese Zeit vor dem Bundesstaat von 1848 oder sogar vor der Helvetischen Republik von 1798 eine nähere Betrachtung wert. Auf institutioneller Ebene wurde während der Zeit des Ancien Régime und sogar im Mittelalter vieles in die Wege geleitet.
Einige Probleme bestanden bereits damals: das Gleichgewicht der Kräfte, das Gleichgewicht zwischen den Kulturen, zwischen Stadt und Land, zwischen Protestant:innen und Katholik:innen. Diese Spaltungen, die den Sargnagel der Schweiz hätten sein können, sind auch ein strukturierender Faktor für unser Land und haben Fragen aufgeworfen, die nicht weit von den Fragen entfernt sind, die uns heute beschäftigen.
Die ersten Verträge, die zwischen den Kantonen geschlossen wurden, haben zwar nichts mit der heutigen Verfassung zu tun. Aber im Laufe der Geschichte zeigt sich immer wieder der gleiche Wille, ungleiche Elemente zu vereinen, die auf den ersten Blick keinen Grund haben, miteinander zu leben und zu arbeiten.
Wenn man sich mit der Verfassungsgeschichte befasst, hat man den Eindruck, dass grosse Verfassungswerke immer nach unruhigen Zeiten entstehen. Ist das wirklich der Fall?
Nicht zwangsläufig, wie wir bei der grossen Welle von Verfassungsrevisionen in den Kantonen in den letzten Jahren gesehen haben. Aber ja: es ist oftmals eine Zeit der Instabilität, die dazu zwingt, über das Fundament nachzudenken, auf dem man die Stabilität wiederherstellen will.
Die Verfassung von 1848 ermöglichte es, die Besiegten des Sonderbundskriegs in den neuen Bundesstaat zu integrieren. Die Totalrevision von 1874 fand den Weg zu einer stärkeren Zentralisierung mit der genialen Lösung, einen Teil der den Kantonen entzogenen Befugnisse dem Volk zu übertragen. Die Revision von 1999 schliesslich wurde vor dem Hintergrund der Wirtschafts-, Finanz- und Moralkrise der 1990er-Jahre konzipiert.
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Momente, in denen die Schweiz das Vertrauen verloren hat
Der Blick zurück zeigt auch, dass die Konsensfindung eine Konstante in der Schweizer Verfassungsgeschichte ist.
Die Notwendigkeit, die latente Gefahr des Auseinanderbrechens abzuwenden, existiert schon lange. Sie reicht bis ins Mittelalter zurück und ist ein Dauerzustand in der Schweizer Geschichte. Es gibt immer einen auflösenden Faktor oder zumindest Zentrifugalkräfte, die das Gebilde sprengen können. Die verschiedenen Verfassungen waren stets Antworten auf diese Bedrohung.
Steht uns nun eine umfassende Verfassungsänderung bevor?
Diesen Eindruck habe ich nicht. Selbst die letzte grosse Verfassungsänderung von 1999 hatte nichts Revolutionäres an sich. Es handelte sich im Wesentlichen um eine Bereinigung und Anpassung an die schweizerische und vor allem die internationale Rechtsprechung.
Das System der direkten Demokratie ermöglicht es bereits, grosse Veränderungen aufzufangen und sie mehr oder weniger gut zu bewältigen. Da die Verfassung laufend angepasst wird, sehe ich derzeit keine Notwendigkeit für eine grundlegende Revision.
Eine der Folgen von eidgenössischen Volksinitiativen ist, dass Artikel in die Schweizer Verfassung aufgenommen werden, die in solchen anderen Ländern niemals vorkommen würden. Wäre beispielsweise die Vorlage 2018 nicht vom Volk abgelehnt worden, hätte man sogar einen Artikel, der das Abschneiden der Hörner von Kühen verbietet. Ist das ein Problem?
Ich denke nicht. Um das Beispiel mit den Kuhhörnern aufzugreifen: Wenn man darüber nachdenkt, ist es überhaupt nicht komisch. In der Debatte um den Veganismus und die Stellung des Tieres war dies ein sehr aktuelles Thema. Trotz der vermeintlich folkloristischen Seite hat dieser demokratische Weg dazu beigetragen, ein reales Thema, das für viele Menschen ein Anliegen war, auf den Tisch zu bringen und zu einer Antwort zu gelangen.
Ich höre oft die Kritik, dass Volksinitiativen ein Faktor für Populismus sind. In Wirklichkeit ist jedoch das Gegenteil der Fall. Wenn der Populismus in der Schweiz weniger grassiert als in anderen europäischen Ländern, dann gerade deshalb, weil man sich traut, bestimmte heikle Themen auf den Tisch zu legen und sich ihnen zu stellen.
In diesem Zusammenhang wird auch die Schaffung eines Verfassungsgerichts gefordert, das verhindern soll, dass Artikel in die Verfassung aufgenommen werden, die als grundrechtswidrig angesehen werden könnten. Was halten Sie von diesem Vorschlag?
Ich persönlich bin dagegen. Diese Frage wurde bereits bei der Totalrevision der Verfassung von 1874 behandelt, und damals wurde die Idee einer Verfassungsgerichtsbarkeit klar abgelehnt, da die Richter nicht an die Stelle des Volkes treten sollten. Ich glaube, dass diese Argumentationslinie nach wie vor richtig ist.
Aber wie man mit potenziell gefährlichen Volksinitiativen umgeht, bleibt eine wichtige Frage. Meiner Meinung nach ist dies eines der heissesten Verfassungsthemen der Gegenwart, das sich auch quer durch die politischen Lager zieht. Das Thema wird sicherlich irgendwann wieder auf den Tisch kommen und nach präzisen Antworten verlangen.
Die Verfassung wird manchmal als «Grundgesetz» des Staates bezeichnet. Dies klingt jedoch etwas abstrakt. Wie würden Sie die Bedeutung der Verfassung in der heutigen Zeit erklären?
In einer Demokratie haben die Menschen Rechte, die durch eine Verfassung formalisiert werden müssen. Eine Verfassung muss eine Sammlung dieser Freiheiten, der Grundrechte, sein.
Die Demokratie ist heute nicht in bester Verfassung. Zwar hält sie sich in der Schweiz dank der ihr zur Verfügung stehenden Instrumente besser als in anderen Ländern, aber man muss wachsam bleiben. Heutzutage sieht man, dass der Geist des Verfassungsstaates bedroht ist, und deshalb ist es wichtig, einen grundlegenden Text zu haben, der die Machtverhältnisse festlegt, der sagt, wer was tut, und der das gesellschaftliche Leben organisiert. Die Verfassung schafft die Grundlagen, auf denen sich das politische Leben in Frieden entwickeln kann.
Übertragung aus dem Französischen: Michael Heger
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