«Wir lernen Dichter kennen, aber keine Architektinnen»
Während der Architekturbiennale in Venedig organisiert Pro Helvetia auch dieses Jahr den Salon SuisseExterner Link. Ich treffe die Kuratorin Evelyn Steiner in ihrem Zürcher Atelier. Sie stellt in "Bodily Encounters" die Beziehung zwischen dem gebauten Raum und unserem Körper zur Diskussion.
SWI swissinfo.ch: Ihr Salon findet coronabedingt ein Jahr später statt. «Bodily Encounters» wirkt heute wie ein Aufruf.
Evelyn Steiner: Der Titel könnte inzwischen durchaus polemisch verstanden werden, waren doch Treffen ausserhalb der eigenen vier Wände zeitweise gar nicht oder nur eingeschränkt möglich.
Es ist höchste Zeit, dass sich das wieder ändert. Und eine Aufgabe der Architektur ist es, Räume zu schaffen, die Begegnungen auch in sanitären Krisen erlauben und stimulieren.
Um was für Begegnungen geht es in Ihrem Salon?
Es kommen verschiedene Wissensfelder und Disziplinen mit der Architektur zusammen, um die vielfältigen Beziehungen zwischen dem Raum und dem Körper zu erkunden.
Und an der Eröffnung macht das Publikum eigene Körpererfahrungen: In einer Performance werden drei hölzerne Skulpturen der Schweizer Künstlerin Katharina Anna WieserExterner Link, die sich wie Lebewesen bewegen, mit den Leuten interagieren, Dazu wird ein Sänger eine neu komponierte Oper mit Zitaten aus der Architekturtheorie und -geschichte vortragen.
Evelyn Steiner (*1981) ist Architektin, Kunsthistorikerin und Kuratorin. Nach dem Abschluss ihres Architekturstudiums in Zürich (ETH) und Buenos Aires arbeitete sie in verschiedenen Architekturbüros in Rom, Barcelona und Zürich. Im Jahr 2012 erwarb sie einen MA in Kunstgeschichte an der Universität Bern.
Sie hat mehrere Architekturausstellungen kuratiert, wie z.B. «Aristide Antonas. Protocols of Athens» (2015), «Constructing Film. Schweizer Architektur im bewegten Bild» (2016) und die Schweizer Adaption der Ausstellung «Frau Architect. Über 100 Jahre Frauen in der Architektur» (2020).
Mit dieser Collage aus historischen Quellen zeigen Sie ja deutlich, dass der Körper immer schon ein Thema in der Architektur war. Warum sollen wir ihr Verhältnis heute neu diskutieren?
Die Geisteswissenschaften beschäftigen sich seit fünfzig Jahren intensiv mit dem Körper. Gründe dafür sind die immer stärkeren Eingriffe in den menschlichen Körper, zum Beispiel in der Fortpflanzungsmedizin, oder die Verschränkung des Körpers mit Computertechnologien im Feld der künstlichen Intelligenz.
Die Gender Studies diskutieren ihn in Bezug auf Identitätspolitik. All diese Debatten werden in der Architektur nur marginal geführt. Sie mit diesen und weiteren Disziplinen zu verbinden, lässt wilde Kombinationen zu, die Überraschungen bieten.
Haben Sie ein Beispiel?
Nehmen wir Architektur und Transhumanismus. Im Fokus dieser philosophischen Denkrichtung steht die physische und psychische Umwandlung des menschlichen Körpers mittels technischer Erweiterungen zum Beispiel implantierter Chips.
Wie könnten diese neusten Errungenschaften in der Medizin und den Neurowissenschaften für die Wahrnehmung und Planung von Architektur fruchtbar gemacht werden? Wie sehen Räume oder urbane Strukturen für «optimierte» Bewohnerinnen und Bewohner aus?
Mehr
Die Maschine und die Moral
Sie sprechen vom Menschen als Cyborg. Aber ist in den «Smart Homes» der Cyborg nicht längst die Wohnung selbst?
Hypervernetzte «Smart Homes» oder auch so genannte «Conscious Environments» gehen eine einzigartige Beziehung mit den Bewohnerinnen und Bewohnern ein. Aber Gebäude sind auch ohne digitale Aufrüstung keine statischen Objekte, sondern Subjekte, die zu einem sprechen, die mit uns in Dialog treten.
Sie sind öffentlich und privat. Sie bilden ein kollektives Gedächtnis, gleichzeitig prägen sie die eigene Biografie, formen die eigene Persönlichkeit. Architektur ist ein sehr präsenter Teil in unserem Leben: Und trotzdem gehört Architektur nicht zum Bildungskanon. Wir lernen Dichter kennen, aber keine Architektinnen.
- September Salon «Kindred Spirits»
23. bis 25. September 2021 - Oktober Salon «Realities»
21. bis 23. Oktober2021 - November Salon «Alterations»
18. bis 20. November 2021
Architektonische Normen und Standards, das Thema des November-Salons, widerspiegeln Wertvorstellungen. Zeigen die aktuellen gesellschaftlichen Identitätsdebatten auch Wirkung in der Architektur?
In der Schweiz sind wir diesbezüglich im Rückstand. Ich denke da beispielsweise an die Zugänglichkeit für körperlich beeinträchtigte Menschen.
Architektur ist träge und reagiert langsamer auf gesellschaftliche Ereignisse als die Kunst. Sie ist zum Beispiel immer noch sehr stark auf das Modell der vierköpfigen Familie zugeschnitten, obwohl längst neue Formen des Zusammenlebens entstanden sind.
Ist das so? In Zürich ist dieses Jahr das vielbeachtete «Zollhaus» eröffnet worden, in dem Gemeinschaften eigene Vorstellungen des Zusammenlebens auch architektonisch im so genannten «HallenwohnenExterner Link» mit verschiebbaren Einheiten umsetzen können.
Das «Zollhaus» ist schweizweit immer noch eine Ausnahme. Ausserhalb der urbanen Gebiete finden sich kaum solche Projekte.
Sind «fluide Räume» eine Antwort? Das Wort fluid kennen wir vor allem in Bezug auf nichtbinäre Geschlechtsidentitäten. Was bedeutet es angewandt auf Architektur?
Für mich sind es Räume, die vieles zulassen, ohne genau zu definieren, was. Im Salon werden wir mit Joel SandersExterner Link darüber diskutieren. Der New Yorker Architekt hat schon früh in der Queer-Debatte mitgewirkt und zahlreiche Texte über nichtbinäre Identitäten und Architektur verfasst. In seinem jüngsten Projekt wendet er das Fluide auf den Museumsraum an und versucht diese integrativer zu denken.
An der Biennale «How will we live together?Externer Link» fragt Hashim Sarkis nach räumlichen Antworten, wie wir als Individuen in grösseren Gemeinschaften zusammenleben können, um auch globalen Herausforderungen zu begegnen. Das erste Kapitel «Among Diverse Beings» dreht sich um den eigenen Körper. Beginnt da die Lösung der Probleme?
Ich glaube schon, dass man zuerst bei sich selber beginnen muss. Wer bin ich? Wie stehe ich zu anderen, fremden, zuweilen auch kranken Körpern? Um über inklusive Architektur nachzudenken, gilt es sowohl verschiedene Identitäten und Lebensformen als auch die Möglichkeiten der medizinisch veränderten oder technisch erweiterten Körper zu berücksichtigen.
Sie nehmen das Thema des alternden Körpers im November-Salon auf. Was ist «Anti-Aging»-Architektur?
Das Konzept stammt von Madeline Gins und Shusaku Arakawa. Sie haben 2008 in New York das Bioscleave HouseExterner Link realisiert. Das Gebäude schafft bewusst eine schwierige Beziehung zu seinen Bewohnerinnen und Bewohnern.
Es hat keine Innenwände, die Böden sind uneben. Es fordert sie ständig heraus und verzögert dadurch, so die Auffassung des amerikanischen Künstlerduos, den Alterungsprozess.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch