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«Zum Glück haben wir in der Schweiz keinen Overtourism»

Die Stadt Luzern empfängt jedes Jahr zwischen 8 und 10 Millionen Besucher:innen. Die Präsidentin von Schweiz Tourismus sieht darin aber keinen Overtourism. © Keystone / Alexandra Wey

Die lokalen Behörden in der Schweiz kämen mit dem Besucherandrang durchaus zurecht, sagt Brigitta M. Gadient, Präsidentin von Schweiz Tourismus. Und sie erklärt, warum die hohen Kosten in der Schweiz für die Branche gar nicht so problematisch sind.

swissinfo.ch: In diesem Sommer war viel von überlaufenen Tourismusdestinationen in der Schweiz die Rede, wie zum Beispiel im Berner Dorf Lauterbrunnen. Sind Sie besorgt über diesen Übertourismus?

Brigitta M. Gadient: Glücklicherweise haben wir in der Schweiz keinen Übertourismus, im Gegensatz zu Städten wie Venedig und Barcelona, die Kreuzfahrtziele sind. Die durchschnittliche Auslastung der Hotels in der Schweiz liegt bei nur 45%.

Darüber hinaus zielen unsere Werbemassnahmen darauf ab, die Verteilung der Touristenströme über das ganze Land und das ganze Jahr hinweg zu verbessern.

Natürlich lassen sich einige punktuelle Anstürme von Tourist:innen nicht immer vermeiden, aber die lokalen Behörden sind durchaus in der Lage, solche aussergewöhnlichen Situationen relativ schnell und effizient zu bewältigen.

Die 63-jährige Bündnerin Brigitta M. Gadient ist von Beruf Juristin und sass von Januar 1995 bis Dezember 2011 im Nationalrat (zuerst für die SVP, später für die BDP). Sie ist in mehreren Verwaltungs- und Stiftungsräten tätig und seit 2017 Präsidentin der Fachhochschule Graubünden. Seit ihrer Ernennung durch den Bundesrat am 1. Januar 2020 ist sie schliesslich Präsidentin von Schweiz Tourismus. Die Organisation hat den Auftrag, die Schweiz als Ferien- und Kongressland zu vermarkten und die Entwicklung der Tourismusbranche voranzutreiben.

Wie sehen Sie die Zukunft des Tourismus in der Schweiz?

Ich bin sehr optimistisch, denn unser Land hat viele Vorteile! Neben der Schönheit unserer Landschaften und Städte ist auch unsere Infrastruktur aussergewöhnlich gut. Ich denke da zum Beispiel an die Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit unserer Züge. Natürlich wird auch unser nachhaltiger Ansatz von vielen Touristen immer mehr geschätzt.

Darüber hinaus ist der Tourismus die fünftwichtigste Branche in Bezug auf die Exporteinnahmen. In Bergregionen, wie in meinem Kanton Graubünden, würde ich sogar sagen, dass der Tourismus systemrelevant ist.

Brigitte Gadient lacht herzhaft
Vor ihrer Tätigkeit als Präsidentin von Schweiz Tourismus war Brigitta M. Gadient unter anderem Nationalratsmitglied. Keystone / Anthony Anex

Was unsere hohen Kosten betrifft, so stellen sie natürlich eine Herausforderung dar, aber diese hohen Kosten sind für ein Premiumreiseziel wie die Schweiz kein Ausschlusskriterium.

Das Parlament hat soeben Ihre Bundesbeiträge für die nächsten vier Jahre genehmigt (maximal CHF 233 Millionen Franken). Sind Sie mit dem Betrag zufrieden?

Absolut nicht! Die Erhöhung um drei Millionen im Vergleich zu den vorherigen vier Jahren ist in Wirklichkeit eine erhebliche Reduzierung, insbesondere wegen der Inflation.

«Ich bin mit den Bundesbeiträgen absolut nicht zufrieden. Wir müssen den Gürtel ernsthaft enger schnallen.»

Ausserdem nehmen unsere Aufgaben und Aktivitäten immer mehr zu, wie z. B. die Förderung des nachhaltigen Tourismus. Wir sind leider Opfer von Haushaltskürzungen in alle Richtungen geworden. Wir müssen den Gürtel ernsthaft enger schnallen.

Das ist immer noch eine Menge Geld für Ihre Werbekampagnen. Ist denn die Anwesenheit von Tourist:innen nicht auch auf direkte Aktionen privater Unternehmen oder einfach auf den Ruf der Schweiz zurückzuführen?

Bei unseren Marketingstrategien verfolgen wir keineswegs eine Politik nach dem Giesskannenprinzip, sondern einen hochgradig zielgerichteten Ansatz.

Beispielsweise kann eine unserer Kampagnen darauf abzielen, ein bestimmtes Segment von Tourist:innen aus einem bestimmten Land zu einer bestimmten Zeit des Jahres in eine bestimmte Region der Schweiz zu locken.

Eine andere Werbemassnahme kann Besucher:innen dazu bewegen, ihren Aufenthalt in der Schweiz über die durchschnittliche Aufenthaltsdauer hinaus zu verlängern.

Dank dieser gezielten Ausrichtung sind wir in der Lage, die Auswirkungen unserer Kampagnen genau zu bewerten.

Möchten Sie generell vor allem Tourist:innen aus dem Inland, aus Nachbarländern oder aus entfernten Ländern anziehen?

Als Reaktion auf die Pandemie haben wir eine Strategie entwickelt, um die Widerstandsfähigkeit und Agilität des Tourismus zu stärken.

Das heisst, wir streben ein Gleichgewicht der Tourist:innenströme nach der Herkunft der Gäste an, mit 45% in der Schweiz ansässigen Tourist:innen, 35% aus nahen Märkten und 20% aus fernen Märkten.

Warum eine solche Aufteilung der Zielmärkte?

Schweizer Tourist:innen haben Priorität, da sie den Anbieter:innen Stabilität garantieren. Allerdings reisen diese einheimischen Gäste in der Regel während der Schulferien und an Wochenenden und übernachten häufiger in Ferienwohnungen.

«Schweizer Tourist:innen haben Priorität, da sie den Anbieter:innen Stabilität garantieren»

Es gibt jedoch viele Vier- und Fünf-Sterne-Hotels, die auch unter der Woche und ausserhalb der Schulferien Gäste benötigen. Aus diesem Grund brauchen wir auch ausländische Tourist:innen, vor allem aus fernen Ländern, auch wenn dies manchmal kulturelle Herausforderungen mit sich bringt.

Welche Ihrer Werbekampagnen erfüllt Sie am meisten mit Stolz?

Unsere weltweiten Kampagnen mit Roger Federer, dem besten Botschafter der Schweiz, waren erfolgreich. Wir haben insbesondere das Reisen mit dem Zug hervorgehoben, um den nachhaltigen Tourismus zu zeigen. Natürlich haben auch viele andere kleinere und gezielte Initiativen, wie z. B. der Einsatz von Influencern, sehr positive Resultate gebracht.

>> Der Werbespot von Schweiz Tourismus mit Roger Federer und dem US-Schauspieler Robert de Niro:

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Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, wie viel Geld Sie Ihren Zweigstellen im Ausland zur Verfügung stellen?

Wir haben vier Ebenen definiert: Schwerpunktmärkte (mit mindestens einer Million Hotelübernachtungen pro Jahr), aktive Märkte (mit mehr als 100’000 Übernachtungen), «Antennen» (mit mehr als 40’000 Übernachtungen) und aufstrebende Märkte (mit einem noch zu bewertenden Potenzial für die Entwicklung der Übernachtungszahlen).

Je höher die Prioritätsstufe, desto mehr Mitarbeiter:innen haben wir vor Ort und desto vielfältiger sind unsere Aktivitäten; die aufstrebenden Märkte werden von unserem Hauptsitz in Zürich aus verwaltet. 

Unsere grössten Niederlassungen befinden sich in den USA/Kanada (18 Mitarbeitende), in Deutschland (17), in «Greater China» (Festlandchina, Hongkong und Taiwan, 12) und im Vereinigten Königreich/Irland (11).

Von den 270 Angestellten von Schweiz Tourismus sind 52% am Hauptsitz in Zürich und nicht vor Ort tätig. Ist dieser Anteil wirklich gerechtfertigt?

Ich bin davon überzeugt, da viele Aufgaben zur Unterstützung unserer weltweiten Aktivitäten zentral durchgeführt werden. Ich denke da zum Beispiel an die Erstellung von Werbematerial.

Schweiz Tourismus arbeitet für die ganze Schweiz. Wie verteilen Sie Ihre Kräfte, um jeder Region gerecht zu werden?

Wir pflegen einen konstruktiven Dialog mit den 26 Kantonen, die in 13 Tourismusregionen aufgeteilt sind. Wir bieten allen einen vom Bund finanzierten Basisservice an, aber darüber hinaus hat jede Region, oder eher eine Gruppe von Regionen, die Möglichkeit, zusätzliche, kostenpflichtige Massnahmen zu beantragen, die sehr gezielt auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind.

So zeigt die Matterhorn-Region oft ein starkes Interesse an fernen Märkten, während andere Schweizer Regionen lieber auf Kunden in bestimmten europäischen Ländern abzielen.

Wichtig ist, dass wir unsere Aktionen auf Schweizer Ebene gut koordinieren, um unsere Gesamtwirkung zu optimieren. Einige Regionen würden sich mehr Dienstleistungen wünschen, aber es liegt in der Natur der Sache, dass man immer mehr will.

Sie sassen siebzehn Jahre lang im Nationalrat, der grossen Kammer des Schweizer Parlaments. Ist diese Erfahrung in Ihrer Rolle als Präsidentin von Schweiz Tourismus nützlich?

Ganz bestimmt! Durch diese Erfahrung habe ich einen tiefen Einblick in den Prozess der Genehmigung unseres Budgets erhalten, das zu 56% vom Bund getragen wird. Zudem kenne ich noch viele Parlamentarier:innen und Mitglieder der Bundesverwaltung, was sehr hilfreich ist.

Editiert von Samuel Jaberg. Übertragung aus dem Französischen: Marc Leutenegger.

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