16’600 Kilometer vom Nationalrat entfernt – aber Kandidat
Vom Gemüsebauer in Frankreich über die Schriftstellerin in Berlin bis zum Diplomaten in Australien: Die 43 Auslandschweizer:innen, die für den Nationalrat kandidieren, könnten diverser nicht sein. Wer hat den weitesten Weg, und in welchem Kanton treten die meisten an? Ein Überblick.
Sie treten in elf Kantonen für neun unterschiedliche Parteien zur Wahl an, sie wohnen in 18 verschiedenen Ländern, verteilt auf sechs Kontinente und sind durchschnittlich 52 Jahre alt. Von den über 5900 Kandidierenden für den Nationalrat in der Schweiz leben 43 im Ausland.
Trotz der grösser werdenden Schweizer Diaspora im Ausland nahm die Zahl der Kandidierenden für diese Wahlen nicht zu. 2019 traten 44 Auslandschweizer:innen an, 2015 waren es 28. Rund drei Viertel der Kandidierenden in diesem Wahljahr (32 Personen) leben in Europa.
In diesem Kanton kandidieren die meisten Ausgewanderten
Nicht etwa in den Kantonen Basel-Stadt (4 Kandidierende), St. Gallen (1) und Thurgau (6), in denen für die kommenden Wahlen den Auslandschweizer:innen das E-Voting zur Verfügung steht, treten die meisten Kandidierenden an. Sondern im Grenzkanton Genf: 11 Auslandschweizer:innen kandidieren dort auf vier verschiedenen Listen.
Sie sind in Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Kanada, Kolumbien, Spanien oder Ungarn zuhause. Wenig erstaunlich, dass fünf auch im nahen Frankreich leben, während in den anderen Ländern nur je eine Person wohnt.
Ausserdem gibt es aus der Fünften Schweiz Kandidat:innen in den Kantonen Zürich (1), Bern (4), Luzern (4), Schwyz (1), Freiburg (2), Basel-Stadt (4), Schaffhausen (1), St. Gallen (1) und Thurgau (6).
Speziell ist auch das Tessin: Insgesamt acht Auslandschweizer:innen starten dort auf der Liste der Mitte international, unter ihnen auch die jüngste und der älteste Kandidierende aus dem Ausland.
Gianfranco Definti lebt seit 1969 in Mailand, mit 82 Jahren ist er noch immer als Versicherungsmakler aktiv und engagiert sich zudem im Vorstand der Auslandschweizer-Organisation. «Man muss aktiv sein, um jung zu bleiben», sagt Definti zu SWI swissinfo.ch.
Er selbst habe die Liste der Mitte international im Tessin vor acht Jahren gegründet. Das Ziel dieser Liste sei klar, der Mitte im Kanton Tessin zu helfen. «Als Auslandschweizer ist es sehr schwierig, gewählt zu werden», sagt der schweizerisch-italienische Doppelbürger.
Das habe bisher nur der Sozialdemokrat Tim Guldimann geschafft. Definti ist eng mit der Schweiz verbunden, seine Wochenenden verbringt er in der Regel im Tessin.
Am jüngsten ist die 21-jährige Studentin Bianca Mascetti aus Como. Sie hat auf die Anfrage von swissinfo.ch nicht reagiert.
Er hätte den weitesten Weg
Die längste Reise bei einer Wahl in den Nationalrat – über 20 Flugstunden – hätte mit Abstand der Freiburger Emmanuel Bichet. Der Diplomat lebt seit Anfang 2022 mit seiner Familie in der australischen Hauptstadt Canberra, wo er Teilzeit auf der Schweizer Botschaft als Sonderbeauftragter für die Pazifikregion arbeitet. Daneben widmet er sich seinem Startup, das er dieses Jahr in der Schweiz gegründet hat.
Bichet kandidiert auf der Liste der Partei Mitte Links-CSP Schweiz. Die Westschweizer Partei, die auch schon mal einen Nationalrat (Hugo Fasel) stellen konnte, vertritt die Interessen von Menschen, die «kein Geld in die Verteidigung ihrer Partikularinteressen investieren können». So setzt sich Bichet etwa für einen Schweizer Mindestlohn von 23 Franken pro Stunde ein.
Der Jurist wurde als Sohn eines Franzosen und einer Schweizerin in Frankreich geboren. Nach seinem Studium in Paris kam er in die Schweiz und absolvierte sein erstes Praktikum für das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA).
Seit 25 Jahren hat er in verschiedenen Positionen im diplomatischen Dienst des EDA gearbeitet, mit Stationen in Jakarta, New York, bei der UNO in Genf und der EU in Brüssel.
Bei einer Wahl in den Nationalrat würde er künftig jedoch nicht pendeln. «Wir planen, im Sommer 2024 in die Schweiz zurückzukehren», sagt der 51-Jährige. «Ich würde also höchstens für zwei Sessionen den Weg aus Australien auf mich nehmen.»
Bichet, der kein Fan von Flugreisen sei, kompensiere deshalb seit Jahren systematisch seinen CO2-Ausstoss. «Besser wäre selbstverständlich, gar nicht mehr zu fliegen», sagt er. Das sei aber aus familiären Gründen im Moment nicht möglich.
Bichet sieht durchaus Chancen, gewählt zu werden. Als Nationalrat würde er sich für die Interessen der Auslandschweizer:innen und der ärmeren Bevölkerung in der Schweiz einsetzen, verspricht er.
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Sie stellt sich als Rentnerin in Kolumbien zur Wahl
Nur 30% der 43 Kandidierenden aus dem Ausland sind Frauen – während der Frauenanteil über alle Nationalratslisten höher (40,75%) ist. Unter den ausländischen Kandidatinnen hätte Leonor Chevalier den weitesten Weg ins Bundeshaus. Rund 9000 Kilometer Luftlinie trennen sie im kolumbianischen Medellín von Bern. Chevalier kandidiert auf der Liste der SVP international in Genf.
Wenn sie gewählt würde, nähme sie den Weg von Medellín und zurück vier Mal pro Jahr auf sich, erzählt sie. «Ich bin sowieso zwei Mal pro Jahr in der Schweiz, dann wären es halt zwei Mal mehr», sagt die 71-jährige Privatlehrerin.
Chevalier ist in Kolumbien geboren und kam mit 16 Jahren für ihre Ausbildung in die Schweiz. «Ich habe mich sofort in die Schweiz verliebt.» Sie heiratete hier und hat drei mittlerweile erwachsene Kinder. Insgesamt verbrachte sie 32 Jahre in der Westschweiz.
2001 kehrte sie – ursprünglich nur für ein Jahr – nach Kolumbien zurück und ist schliesslich geblieben. «Als Rentnerin könnte ich mir das Leben in der Schweiz mittlerweile nicht mehr leisten», sagt Chevalier. Nichtsdestotrotz will sie sich weiterhin für die Schweiz und die Auslandschweizer:innen einsetzen.
Dabei liegt ihr der Erhalt der Schweizer Kultur am Herzen. «Ich bin nicht gegen Migration, aber eine unkontrollierte Einwanderung ist für kein Land gut», sagt die SVP-Kandidatin. Auch für die Suche nach Lösungen bei den Dauerthemen der Fünften Schweiz – Bankkonten, E-Voting, Zustellung der Wahlunterlagen, Schweizerschulen im Ausland – wolle sie sich einsetzen.
Eine grosse Partei fehlt
Für welche Parteien gehen die Kandidat:innen aus dem Ausland mehrheitlich ins Rennen? Hier fällt auf, dass die Mitte Schweiz und die Grünliberale Partei mit 28 Kandidierenden zu den internationalsten Parteien des Wahlkampfs 2023 zählen. Wobei die SVP mit fünf, die Grünen mit drei Kandidaturen und die SP mit einer Kandidatur immerhin auch noch mit von der Partie sind.
Zudem fällt auf, dass die drittgrösste Partei der Schweiz, die FDP, keine Kandidat:innen aus dem Ausland stellt. Das sei ein bewusster Entscheid, wie die FDP international im Rahmen der Parteienchecks von SWI swissinfo.ch sagte. Die FDP fördere viel mehr die indirekte Vertretung der Fünften Schweiz im Parlament.
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