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Der Faktor Vertrauen: Was ist seine Bedeutung für die Schweiz

175 Jahre Bundesverfassung: Braucht die Schweizer Verfassung ein Update?

Schweizer Bundesverfassung
Keystone / Christian Beutler

Wie kein anderes Land öffnet die Schweiz ihre Verfassung dem Volk für Korrekturen. Jetzt, im Jubiläumsjahr, wird über eine Totalrevision diskutiert. Warum überhaupt – und was haben die verschiedenen Interessengruppen in der Schweiz auf der Agenda?

175 Jahre gibt es den Bundesstaat. 175 Jahre hat die Schweiz eine moderne Verfassung. Es ist ein grosses Jubiläum für das Land.

Die Schweizer Verfassung ist ein Fundament in dauernder Veränderung. Viele Volksabstimmungen führen zu neuen Verfassungsartikeln. Und auch die Basis ist nicht starr: Das letzte Mal stimmten die Schweizer:innen 1999 einer Totalrevision der Verfassung zu. Und gerade ist eine Volksinitiative für eine neue Totalrevision lanciert worden.

Die Verfassung ist Basis des Gemeinwesens und in stetiger Veränderung zugleich. Was gilt es zu bewahren? Und was soll sich verändern? SWI swissinfo.ch hat diese Fragen verschiedenen Organisationen der Zivilgesellschaft gestellt.

Hier präsentieren wir die Antworten von der Demokratiestiftung Pro Futuris, von der zukunftsorientierten «Bürger:innen-Lobby» CH++, vom postmigrantischen Institut Neue Schweiz INES und vom rechtskonservativen Verein Pro Schweiz.

Pro Schweiz
Montage swissinfo.ch / Vera Leysinger

Mit über 25’000 Mitgliedern will Pro Schweiz Bedrohungen gegen die schweizerische Unabhängigkeit, Souveränität, Neutralität und Sicherheit erfolgreich abwehren. Pro Schweiz will insbesondere keinen EU- und NATO-Beitritt.

Was wünschen Sie dem Schweizer Bundesstaat zu seinem 175. Geburtstag?

Pro Schweiz begegnet diesem Jubiläum mit viel Dankbarkeit und Respekt. Die Gründergeneration von 1848 hat Grundlagen geschaffen, welche der Eidgenossenschaft Freiheit, Stabilität, Frieden, Demokratie und Wohlstand ermöglichen – bis heute. Möge der Bundesstaat von den in Verantwortung stehenden Generationen mit Respekt, Demut und Weitsicht in die Zukunft geführt werden.

Gibt es einen Verfassungsartikel, der Pro Schweiz besonders am Herzen liegt?

Artikel 2, der Zweckartikel, insbesondere Abschnitt 1 ist zentral: «Die Schweizerische Eidgenossenschaft schützt die Freiheit und die Rechte des Volkes und wahrt die Unabhängigkeit und die Sicherheit des Landes.»

Welcher Verfassungsartikel erhält zu wenig Beachtung?

Im Moment klar genau dieser Artikel 2, Abschnitt 1! Freiheit und Rechte des Volkes. Die Unabhängigkeit und Sicherheit des Landes sind unter Druck. Die direkte Demokratie wird zunehmend relativiert – Stichworte: Notrecht und mangelnde Umsetzung von Volksentscheiden – und Gesetzgebung sowie die Gerichtsbarkeit der Schweiz werden preisgegeben respektive drohen an die EU-Institutionen wegzubrechen.

Was waren aus Ihrer Sicht die wichtigsten Updates, die die Verfassung seit Einführung des Frauenstimmrechts erlebt hat?

Artikel 121a, der mit der Annahme der «Masseneinwanderungs»-Initiative in die Verfassung kam: Die Schweiz steuert die Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern wieder eigenständig. Leider wird der Artikel nicht umgesetzt, die Folgen der sich abzeichnenden 9-Millionen-Schweiz werden täglich spürbarer. 

Was fehlt in der Bundesverfassung, um den Herausforderungen der nächsten 30 Jahre zu begegnen?

Eine präzise Definition des Kerninhalts der immerwährenden, bewaffneten und umfassenden Neutralität.

Gehört Gott noch in die Verfassung?

Ja – darüber braucht es keine Diskussion.

Gibt es einen Verfassungsartikel, der aus der Sicht von Pro Schweiz getilgt werden sollte?

Grundsätzlich nein. Die Bundesverfassung wurde vom Schweiz Volk und den Ständen demokratisch angenommen und laufend ergänzt. Das Initiativrecht ermöglicht uns, Fehlentwicklungen in der Verfassung notfalls zu korrigieren.

Freuen Sie sich auf die Diskussion, die die Initiative zur Totalrevision der Bundesverfassung auslöst?

Nein. Sie wird wieder die notwendigen Grundsäulen des Landes infrage stellen.

Wie stehen Sie zur bisherigen Verankerung der Schweizer Neutralität in der Verfassung im Hinblick auf die Herausforderungen der heutigen Welt?

Die Substanz der Neutralität muss präzis verankert werden. Das heisst: Die Schweiz beteiligt sich nicht an kriegerischen Auseinandersetzungen im Ausland, auch nicht mit indirekten Waffenlieferungen. Sie leistet humanitäre Hilfe, bietet ihre guten Dienste an und bleibt Vorbild für ein freiheitliches und demokratisches Land. Mit Blick auf die geopolitischen Entwicklungen wird die Rolle der Schweiz an Bedeutung gewinnen.

INES
Montage swissinfo.ch / Vera Leysinger

Dass sich die Einwanderungsrealitäten der Schweiz in der Bundesverfassung angemessen widerspiegeln.

Was wünschen Sie dem Schweizer Bundesstaat zu seinem 175. Geburtstag?

Dass er es schafft, die eigene Demokratie angesichts der Herausforderungen der Zeit – speziell auch der Migration – so weiterzuentwickeln, dass sie für die Zukunft nachhaltig aufgestellt ist.

Gibt es einen Verfassungsartikel, der INES besonders am Herzen liegt?

Die Arbeit von INES setzt sicher massgeblich am Artikel 8 in Verbindung mit Art. 35 der Bundesverfassung an, der die Durchsetzung des Grundrechts auf Nichtdiskriminierung in allen Bereichen des Lebens zur Aufgabe des Staates macht. Auch die Sozialziele in Artikel 41 und der Beitrag zur Achtung der Menschenrechte in der Welt in Artikel 54 sind für INES zentral.

Welcher Verfassungsartikel erhält zu wenig Beachtung?

In der Präambel steht etwas, das oft vergessen geht: Das Wohl Aller sollte sich am «Wohl der Schwachen» messen.

Was waren aus Ihrer Sicht die wichtigsten Updates, die die Verfassung seit Einführung des Frauenstimmrechts erlebt hat?

Artikel 8, konkret die Absätze 2 bis 4: Diskriminierungsverbot, Gleichberechtigung und Inklusion von Menschen mit Behinderung.

Was fehlt in der Bundesverfassung, um den Herausforderungen der nächsten 30 Jahre zu begegnen?

Das Bürgerrecht braucht ein Update. In einer Einwanderungsgesellschaft gehört das Grundrecht auf Einbürgerung in die Verfassung.

Ausserdem braucht es eine Regelung, die die Behörden verpflichtet, den Grundsatz der Nichtdiskriminierung in Artikel 8 auf alle Bereiche auszuweiten: «Die Gesetze sehen Massnahmen zur Bekämpfung jeder Form von Diskriminierung in allen Lebensbereichen vor.»

Gehört Gott noch in die Verfassung? 

Der Staat ist säkular zu organisieren – Staat und Religion gehören getrennt und die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist zu gewährleisten.

Gibt es einen Verfassungsartikel, der aus der Sicht von INES getilgt werden sollte? 

Bei einer Totalrevision ginge es auch darum, alle Artikel zu streichen, die gemäss offizieller Position von Bundesrat nicht grund- und menschenrechtskonform ausgelegt werden können.

Freuen Sie sich auf die Diskussion, die die Initiative zur Totalrevision der Bundesverfassung auslöst?

Ja, wir finden dies zentral. Die Verfassung ist die Grundordnung unserer Werte und Organisation, die bewahrt aber laufend auch an die gesellschaftlichen Realitäten angepasst werden muss. Der in der Präambel verankerte Grundsatz der «Einheit in Vielfalt» ist die Kernschnur, die uns leiten soll. 

Wie stehen Sie zur bisherigen Verankerung der Schweizer Neutralität in der Verfassung im Hinblick auf die Herausforderungen der heutigen Welt?

Die Frage, was Neutralität eigentlich genau heissen kann, ist historisch immer wieder ausgehandelt worden. Wenn dieses aussenpolitische Instrument in die Verfassung gehört – darüber lässt sich streiten –, so müsste es so formuliert sein, dass die Freiheit besteht, unser Verständnis von Neutralität auch weiterzuentwickeln. 

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CH++
Montage swissinfo.ch / Vera Leysinger

Eine handlungsfähige Schweiz, die Entscheide mit der Wissenschaft fällt und sie solide und wirksam mit Technologie umsetzt.

Was wünschen Sie dem Schweizer Bundesstaat zu seinem 175. Geburtstag?
Mehr Mut. Die Schweiz muss wieder lernen, weitreichende und visionäre Entscheide zu treffen. Nur so wird sie die aktuellen und künftigen Herausforderungen meistern können.

Gibt es einen Verfassungsartikel, der CH++ besonders am Herzen liegt?
Der Artikel 64: Forschung. Dass der Forschungs- und Innovationsstandort Schweiz nicht selbstverständlich ist und politischen Einsatz braucht, zeigen die geplanten Budgetkürzungen.

Welcher Verfassungsartikel erhält zu wenig Beachtung?
Artikel 102: Landesversorgung. Die COVID-19-Pandemie hat uns schmerzlich vor Augen geführt, wie teuer ungenügende Vorbereitung auf Krisenzeiten ist.

Was waren aus Ihrer Sicht die wichtigsten Updates, die die Verfassung seit Einführung des Frauenstimmrechts erlebt hat?
Die Annahme der Alpeninitiative 1994: Sie hat den Grundstein für die institutionelle Anerkennung der Nachhaltigkeit als zentrales politisches Ziel gesetzt.

Was fehlt in der Bundesverfassung, um den Herausforderungen der nächsten 30 Jahre zu begegnen?
Die Digitalisierung. Man könnte zum Beispiel grundlegende Prinzipien verantwortungsvoller Digitalisierung festschreiben: Offenheit, Datensparsamkeit, Dezentralität.

Gehört Gott noch in die Verfassung?
Nein. Es braucht eine strikte Trennung von Kirche und Staat.

Gibt es einen Verfassungsartikel, der aus der Sicht von CH++ getilgt werden sollte?
Nicht getilgt, aber abgeändert: Der Artikel 175 Absatz 1 sieht heute nur sieben Mitglieder des Bundesrats vor. Diese Zahl ist für die heutigen Herausforderungen viel zu niedrig – deswegen fordern wir eine Erhöhung auf neun und die Schaffung eines Bundesamts für Technologie.

Was erwarten Sie von den Diskussionen, die die Initiative zur Totalrevision der Bundesverfassung auslösen wird?
Wir wollen, dass das Parlament und der Bundesrat endlich erkennen, dass es so wie bisher nicht weitergeht. Ob Klima- und Biodiversitätskrise oder die rasante Entwicklung datenbasierter algorithmischer Systeme: Viele aktuelle Entwicklungen zeigen auf, dass “beobachten und abwarten” keine nachhaltige Strategie ist.

Wie stehen Sie zur bisherigen Verankerung der Schweizer Neutralität in der Verfassung im Hinblick auf die Herausforderungen der heutigen Welt?
CH++ setzt sich ein für eine wissenschaftlich und technologisch handlungsfähige Schweiz. Werden wir nicht handlungsfähiger, werden wir irrelevant. Dann spielt es auch keine Rolle, ob wir neutral sind oder nicht.

Pro Futuris
Montage swissinfo.ch / Vera Leysinger

Der Think + Do Tank Pro Futuris, gegründet von der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft SGG, tritt an, um die demokratische Kultur der Schweiz zu stärken. Wir schaffen Experimentierräume für die Demokratie von morgen.

Was wünschen Sie dem Schweizer Bundesstaat zu seinem 175. Geburtstag?

Zum Jubiläum feiern wir die Vielfalt der Demokratie und richten den Blick nach vorne: Wer soll und darf in der Schweiz in Zukunft mit welchen Instrumenten über Gesetze und Verfassung mitbestimmen? Wie gehen wir als Demokratie mit den Krisen unserer Zeit um?

Gibt es einen Verfassungsartikel, der Pro Futuris besonders am Herzen liegt?

Die Zweckbestimmungen in Artikel 2 der Bundesverfassung: Diese geben vor, dass die Eidgenossenschaft die “gemeinsame Wohlfahrt”, “nachhaltige Entwicklung”, “den inneren Zusammenhalt” und die “kulturelle Vielfalt des Landes” fördern soll. Das sind Grundwerte, für die sich Pro Futuris und die SGG ebenfalls stark machen.

Welcher Verfassungsartikel erhält zu wenig Beachtung?

Wir sollten uns die Präambel als Richtschnur für die Zukunft stärker zu Herzen nehmen. Die Präambel sagt, dass wir unseren Erfolg am «Wohlergehen der Schwachen» messen – und dass wir uns der «Verantwortung gegenüber den zukünftigen Generationen» bewusst sein sollten.

Was waren aus Ihrer Sicht die wichtigsten Updates, die die Verfassung seit Einführung des Frauenstimmrechts erlebt hat?

Die Ergänzung der Rechtsgleichheit mit dem Gleichstellungsartikel für die Geschlechter, sowie auch der Gleichstellungsartikel für Menschen mit Behinderungen sind zwei wichtige Errungenschaften, ebenso die Einführung des Stimmrechtsalter 18 und dass in der Bundesverfassung von 1999 das Völkerrecht Eingang fand.

Was fehlt in der Bundesverfassung, um den Herausforderungen der nächsten 30 Jahre zu begegnen?

Wir fragen uns, wer in den nächsten 30 Jahren mitreden darf und wie wir kollektive Krisen gemeinsam lösen können. Sorgen bereiten uns die starke affektive Polarisierung, die zunehmende Abwendung von demokratischen Institutionen sowie den allgemeinen Zukunftspessimismus. Sie bedrohen unsere Fähigkeit, uns über gemeinsame Probleme und Lösungen zu verständigen. Ein Lösungsansatz könnte sein, die Bundesverfassung mit einem «Innovationsartikel» zu ergänzen, der es dem Bund erlauben würde, neue Demokratieformen auszuprobieren

Gehört Gott noch in die Verfassung?

Das ist nicht unser Themenbereich. Unsere Mission ist die Förderung der demokratischen Kultur in der Schweiz.

Gibt es einen Verfassungsartikel, der aus der Sicht von Pro Futuris getilgt werden sollte?

In die Verfassung gehören aus unserem Verständnis keine Bestimmungen, die sich gegen den Zusammenhalt einer vielfältigen Gesellschaft richten.

Freuen Sie sich auf die Diskussion, die die Initiative zur Totalrevision der Bundesverfassung auslöst?

Interessant: Das Instrument der Totalrevision ist so alt wie die Bundesverfassung selbst. Eine Debatte über die Grundsätze unserer Demokratie und Gesellschaftsordnung ist begrüssenswert, da im Hinblick auf die riesigen Herausforderungen unserer Zeit ein Modernisierungsschub ansteht. Offen ist lediglich, ob die Totalrevision die richtige Form für diese Debatte bietet.

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Editiert von Marc Leutenegger. Der Artikel wurde nach der Veröffentlichung um eine Selbstbezeichnung ergänzt.

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