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Wikipedia-Webseite
Keystone / Jens Büttner

Wikipedia wurde vor 20 Jahren gegründet und ist heute eine der meistbesuchten Webseiten der Welt. Setzt der freie Zugang zu Wissen auch demokratische Impulse?

Das Internet würde eine Welle der Demokratisierung über die Welt schwappen lassen, da waren sich viele am Anfang einig. Die freie Verfügbarkeit von Information, die erweiterten Partizipationsmöglichkeiten, der grenzenlose Austausch: Es schien nur eine Frage der Zeit, bis sich auch die Freiheit verbreiten würde.

Die Online-Enzyklopädie Wikipedia, die am 15. Januar 2001 online ging, schien diese Utopie wahrwerden zu lassen. In den zwanzig Jahren ihrer Existenz ist sie trotz aller Mängel ein Vorzeigebeispiel für ein kollektives, sprachübergreifendes, nicht-kommerzielles, pluralistisches Projekt geworden – und auch das bisher Einzige dieser Grösse.

Aber ist Wikipedia auch eine Erfolgsgeschichte hinsichtlich der weltweiten Förderung der Demokratie?

Wikipedia schrieb sich den freien Zugang für alle zum gesamten Wissen der Menschheit auf die Fahne. Diese Demokratisierung des Wissens, wo alle auch beitragen konnten, war eine radikale Abkehr von bisherigen Enzyklopädien, die elitäre Unterfangen waren. Wenn nun alle die gleichen Informationen zur Verfügung stünden, hätten alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Voraussetzungen, um an politischen Prozessen teilzunehmen, so das Kalkül der Wikimedia Foundation, die von San Francisco aus das Projekt koordiniert.

Bildung und Demokratie

Dass die Demokratie dank dem Internet nicht automatisch einen Siegeszug durch die Weltgeschichte begann, ist mittlerweile bekannt. Zwar wurden die Informationsmittel demokratisiert – das hatte aber keine politischen Machtverschiebungen zu Folge, sagt Sarah Genner. «Man hatte überzogene Hoffnungen und glaubte, dass der technologische Fortschritt quasi automatisch politische Macht nach unten verlagern würde», so die Medienwissenschaftlerin, die zum Themenbereich Digitalisierung forscht.

Bei der Debatte rund um die digital democracy gibt es viele Missverständnisse, ist Genner überzeugt – die Entwicklung gehe eben nicht in eine bestimmte Richtung. «Mit dem Internet wurden die Publikationstools demokratisiert. Es zeigt sich aber, dass dies nicht unbedingt dazu führt, dass die politische Debatte demokratischer und partizipativer wird.» Dazu kommt das grosse Problem, dass Demokratisierungs-Effekte kaum nachweisbar sind.

Sarah Genner
Sarah Genner forscht von Zürich aus über Digitalisierung und ihre gesellschaftliche Auswirkungen. Sarah Genner

Impulse lieferte das Internet aber durchaus: Die digitale Mobilisierung etwa, die während des Arabischen Frühlings erfolgte, war ein wesentlicher Faktor hinter den Umstürzen im Nahen Osten. Zu einer breiten Demokratisierungswelle kam es zwar nicht, aber die politischen Machtverhältnisse wurden auf Jahre hinaus verändert.

Gerade in dieser Weltgegend wird das Dilemma von Wikipedia sichtbar: Es gibt zwar geschätzte 313 Millionen Menschen mit Arabisch als Muttersprache, plus weitere 424 Millionen die sie als Zweit- oder Drittsprache sprechen. Aber die arabischsprachigen Wiki-Versionen kommen zusammen auf weniger als 2,5 Millionen Artikel – etwa gleich viel wie die deutschsprachige Version, die sich an drei bis viermal weniger Menschen richtet.

Die Plattform ist eben auch ein Spiegel des Bildungsstandes und des Zugangs zum Netz. Genner identifiziert hier ein Problem, dass für das Internet im Allgemeinen und für Wikipedia im Spezifischen gilt: Die Akkumulation von Wissen erfolgt oft dort, wo schon ein Vorsprung besteht. So vergrössert sich die Wissenskluft, und damit wird auch die Ungleichheit grösser. Für Genner ist die Wikipedia das vielleicht demokratischste Online-Grossprojekt. Doch sie schiebt nach: «80% von Wikipedia wurde von 1% der Nutzer verfasst, die hauptsächlich gebildete weisse Männer sind.»

Zensur als Gradmesser

Obwohl sich der demokratiepolitische Einfluss von Wikipedia nur schwer quantifizieren lässt, gibt es kaum Zweifel, dass dieser besteht – oder zumindest als bestehend wahrgenommen wird: Die Zensurierung der Plattform bezeugt das.

«Internetzensur korreliert mit autoritären Regimen», sagt Genner. Die unkontrollierte Verbreitung von Information, die in den Augen der Mächtigen potenziell schädlich ist, birgt die Gefahr von Aufwiegelung. Deshalb wollen anti-demokratische Machteliten diese durch Sperren unterbinden. Das gilt für Wikipedia, aber bei weitem nicht nur, gibt Genner zu bedenken.

In der Tat hat sich das Blockieren des Internetzugangs als beliebtes Instrument erwiesen, etwa während Demonstrationen oder des allgemeinen Aufruhrs. Das Augenmerk liegt dann in erster Linie auf den sozialen Medien, in denen sich Informationen sehr schnell verbreiten können. Im Zweifelsfall wird der Zugang gekappt.

Bei Wikipedia liegt der Fall anders. Nicht Geschwindigkeit zeichnet die Enzyklopädie aus, sondern Wahrheit und Deutungshoheit – oder gar die schiere Existenz: Was nicht auf Wikipedia ist, gibt es nicht. Das heisst im Umkehrschluss auch: Was es in den Augen der Mächtigen nicht geben darf, hat aus Wikipedia zu verschwinden.

So gibt es Beispiele von Zensur, die vor allem Wikipedia galtExterner Link. Während sie sich in einigen europäischen Ländern gegen einzelne Artikel richtet, geht es anderswo um ganze Teile der Plattform. So hat beispielsweise der Iran – der einen kurdischen Separatismus im eigenen Land bekämpft – in der Vergangenheit den Zugang zur kurdischsprachigen Wikipedia phasenweise geblockt. Und die Türkei hat nach einem Bericht, der die mutmassliche türkische Unterstützung von Terrororganisationen in Syrien thematisierte, die gesamte Wikipedia während 2,5 Jahre gesperrt, bis Anfang 2020 nach einem Entscheid des Verfassungsgerichts die Sperre wieder aufgehoben wurde. In China ist Wikipedia seit April 2019 komplett gesperrt.

Intern undemokratisch?

Die Plattform ist in letzter Zeit aber auch selber in die Kritik geraten: Inhaltlich würde Wikipedia mittlerweile von exklusiven, elitären Männergruppen dominiert, die Diversität sei zu wenig ausgestaltet (wobei das nach Sprachversion erheblich variieren kann). Das Techmagazin Wired schriebExterner Link, die Plattform befinde sich aus diesem Grund an einem Scheideweg. Sollte die editoriale Mannschaft nicht diversifiziert werden, drohten Wikipedia existenzielle Probleme.

Akuter scheint aber das Problem der sinkenden Mitwirker-Zahl: Immer weniger Menschen sind bereit, auf freiwilliger Basis Beiträge zu verfassen oder zu aktualisieren. Das wiederum führt dazu, dass Artikel veralten oder nur langsam aktualisiert werden.

Ob das Ende wirklich naht, wird sich zeigen lassen – der Untergang wurde Wikipedia schon oft genug prophezeit. Nach zwanzig Jahren Bestehen ist der anfängliche Enthusiasmus etwas abgeklungen, aber die Strukturen innerhalb der Plattform wurden immer wieder angepasst.

Trotz aller Kritik: Im Vergleich zu Plattformen mit ähnlich grosser Reichweite hat Wikipedia heute ein relativ seriöses Image. Der langwierige Produktionsprozess und die inhaltliche Prüfung durch mehrere Personen sind letztlich Ausdruck eines demokratischen Selbstverständnisses – etwa im Vergleich zu sozialen Medien, deren Einfluss auf die Politik in den letzten Jahren für wachsendes Unbehagen sorgt.

Die herausragende Stellung von Wikipedia erhält damit eine problematische Seite: Mittlerweile hat sie die bisherigen enzyklopädischen Angebote, die professionell produziert werden und kostenpflichtig sind, längst abgehängt. Sollte die Plattform an Relevanz verlieren – weil beispielsweise die Anzahl der Mitwirkenden weiter schrumpft oder sich die ständigen Finanzierungsprobleme verschärfen – könnte die kompetente Wissensvermittlung vor grossen Problemen stehen.

Dann stellte sich die Frage: Was würde die Lücke schliessen, die Wikipedia hinterliesse? Google, Apple, Facebook oder Amazon? Kandidaten sind sie. Helden der Demokratie eher nicht.

Wikipedia und die Schweiz

Im Fall der Schweiz zeigt sich die Stärke von Wikipedia, ganze Sprachräume zu verbinden. Die deutschen, französischen und italienischen Versionen gehören zu den Top 10 der Plattform nach Anzahl der Artikel. Die Schweizerinnen und Schweizer haben damit Zugriff auf Inhalte, die sie aus eigener Kraft nicht so hätten produzieren können.

Was aus eigener Kraft jedoch gelingt, sind spezifische Beiträge. Die Frage nach der Diversität der Plattform hat in der Schweiz zum Projekt «Frauen für WikipediaExterner Link» geführt: Die koordinierte Aktion hat zum Ziel, mehr Biografien über Frauen auf der Plattform zu erfassen – denn Gleichstellung beginne mit Sichtbarkeit. Angesichts des Jubiläums von 50 Jahren Frauenstimmrecht ein aktuelles Unterfangen. So zeigt Wikipedia, dass auch eine Demokratie weiter demokratisiert werden kann.

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