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«Die EU hat sich besser entwickelt als die Schweiz»

Ein Mann
Peter Bodenmann. Thomas Egli/Lunax

Eine kleine Insel umgeben von der mächtigen Europäischen Union. Aber ist die eigensinnige Schweiz zu bedauern oder zu beneiden? Für den Alleingang hatte sie sich vor einem Vierteljahrhundert entschieden. Damals sagte die Schweiz Nein zu einem Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR. Bei vielen Stimmbürgern galt der EWR als Vorstufe zum EU-Beitritt. swissinfo.ch hat mit den Exponenten des Pro- und Kontralagers von damals gesprochen.

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Die Abstimmung vom 6. Dezember 1992 war ein Debakel für das politische Establishment der Schweiz. Regierung, Parlament und die Mehrheit der grossen Parteien hatten sich zuvor für einen Beitritt der Schweiz zum EWR ausgesprochen und bei der EU bereits ein Beitrittsgesuch hinterlegt. Aber die emotionale Kampagne der rechtskonservativen Gegner, die den Untergang der Schweizer Eigenheiten prophezeiten, war erfolgreich. Diesem Abstimmungserfolg verdankte Christoph Blocher, Übervater der Schweizerischen Volkspartei (SVP), seinen kometenhaften politischen Aufstieg.

Für Peter Bodenmann, damals Präsident der Sozialdemokratischen Partei (SP), der sich zuvorderst für eine stärkere Kooperation mit den europäischen Partnern engagierte, war es eine happige Niederlage. Der Walliser Hotelier ist aber immer noch überzeugt von seinen damaligen Ansichten.

swissinfo.ch: Bei jedem EWR-Nein-Jubiläum feiert Ihr damaliger Kontrahent Christoph Blocher, und Sie werden von den Medien als grosser Verlierer von damals präsentiert. Ärgert Sie das?

Peter Bodenmann: Das habe ich nicht so wahrgenommen. Es ärgert mich, dass wir damals das Volksmehr verpassten, weil die Grüne Partei und Teile der Sozialdemokratischen Partei mit Rudolf Strahm und Andreas Gross gegen den EWR antraten.

swissinfo.ch: In der Schweiz wurde dem Umweltschutz mehr Rechnung getragen als in anderen europäischen Ländern. Die Grünen mussten befürchteten, dass ihre Anliegen mit dem EWR-Beitritt unter die Räder kommen würden…

Landkarte Europas
Die kleine Schweiz, umgeben von der EU. swissinfo.ch

P.B.: Das Gegenteil ist eingetreten: Welches Land bekam an der Klimakonferenz in Bonn in Sachen Umweltschutz die besten Noten? Das EU-Land Schweden. Wir in der Schweiz haben das Gefühl, dass wer bilaterale Verträge unterzeichnet oder im EWR oder sogar in der EU sei, keine Spielräume mehr habe .

swissinfo.ch: Die Schweiz ist mit den bilateralen Verträgen, die sie mit der EU nach dem Nein zum EWR aushandeln konnte, nicht schlecht gefahren.

P.B.: Heute haben wir erstens die Personenfreizügigkeit, zweitens die flankierenden Massnahmen, drittens die 40-Tönner mit einer intelligenten LSVA [Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe] und einen weitgehend diskriminierungsfreien Zugang zum europäischen Markt. Eigentlich all das, was der EWR auch gebracht hätte.

swissinfo.ch: Also war es richtig, dem EWR nicht beizutreten?

P.B.: Falsch. Die Länder in der EU haben sich besser entwickelt als die Schweiz. Nur wollen dies die Medien und die Politik hier nicht wahrhaben. Der ganze fremdenfeindliche Diskurs hat sich zu einer schwer heilbaren Kopfkrankheit entwickelt.

swissinfo.ch: Die Arbeitslosigkeit ist in der Schweiz aber tiefer als in den anderen europäischen Ländern.

P.B.: Solchen Unsinn verbreitet nur, wer die Statistiken nicht kennt. Es gibt nur eine Statistik, welche die richtigen Vergleiche anstellt, nämlich jene über die Erwerbslosigkeit. Diese Statistik zeigt, dass wir heute schlechter dastehen als Bayern oder Baden-Württemberg.

swissinfo.ch: Man kann doch nicht die wirtschaftlich stärksten Regionen Deutschlands mit einem anderen Staat vergleichen. Wenn schon müsste man diese Regionen mit den wirtschaftlich stärksten Regionen der Schweiz vergleichen.

Peter Bodenmann

Der Walliser Rechtsanwalt gehört zu den bekanntesten Politikern der Schweiz, obwohl er sich bereits Ende 1999 aus der Politik zurückzog und seither ein Hotel in seiner Geburtsgemeinde Brig führt.

Bodenmann war von 1987 bis 1997 Nationalrat (grosse Parlamentskammer) und von 1990 bis 1997 Präsident der Sozialdemokratischen Partei (SP).

P.B.: Das kann nur jemand behaupten, der die Wirtschaftsgeografie Europas nicht kennt. In der Schweiz leben acht Millionen Menschen, in Bayern zwölf. Es gibt auch in Bayern Regionen, die wirtschaftlich schwächer sind, zum Beispiel der bayrische Wald, von daher ist der Vergleich zulässig.

Alles hat sich in der EU anders entwickelt, als uns die EWR-Gegner damals weismachen wollten.

swissinfo.ch: Was konkret haben wir denn Ihrer Ansicht nach als Nicht-Mitglied verpasst?

P.B.: Eine Katastrophe war das Nein zum EWR-Beitritt nicht. Der EWR war eine gute Chance. Aber die Schweiz hat mit den bilateralen Verträgen eine zweite bekommen: Diese Verträge sind uns teurer zu stehen gekommen und haben uns Wachstum gekostet.

Die Schweizer sind immer spät dran, aber gerade noch rechtzeitig, um einen grösseren Schaden zu verhindern. Deshalb haben wir heute einen zentralen Punkt der EWR-Auseinandersetzung so geregelt, wie wir [die SP] es damals vorgeschlagen hatten, nämlich: Ja zur Personenfreizügigkeit und gleichzeitig Ja zu den flankierenden Massnahmen, die von der SVP [rechtskonservative Partei] immer bekämpft wurden.

Demonstrierende Leute
«Christoph Blocher hat in diesem Abstimmungskampf eine Schweiz entdeckt, die er nicht kannte. Er hat gemerkt, dass es dieses reaktionäre Potential gibt, und man dieses parteipolitisch organisieren kann», sagt Peter Bodenmann. Keystone

swissinfo.ch: Wenn die Schweiz dem EWR beigetreten wäre, hätte sie ein Stück Unabhängigkeit preisgeben müssen. Wir hätten zum Beispiel nicht über die Masseneinwanderungs-Initiative abstimmen können…

P.B.: Selbstverständlich hätten wir darüber abstimmen können, und selbstverständlich hätte die Schweiz diese Initiative genau gleich umgesetzt, wie sie dies jetzt gemacht hat, nämlich EU-kompatibel.

swissinfo.ch: Mit anderen Worten, es spielt keine grosse Rolle, dass wir weder im EWR noch in der EU mitmachen?

P.B.: Total falsch: Ich sage, es gibt keine grosse Differenz zwischen EWR und bilateralen Verträgen. Der EWR hätte einige kleinere Vorteile gehabt, aber nichts Entscheidendes.

Ganz anders würde es bei einem EU-Beitritt aussehen. Als EU-Mitglied muss man nicht von Dritten bestimmtes Recht übernehmen, sondern kann mitentscheiden.

Im Grundsatz ist es doch absolut klar: In einem Dorf, wo 28 Personen Mitglied des Schiessvereins sind, können Sie als Nicht-Mitglied nur schiessen, wenn es ihnen die anderen erlauben. Jede Schweizer Gemeinde funktioniert so.

swissinfo.ch: Das ist eine Minderheitsmeinung. Für einen EU-Beitritt gibt es heute noch weniger Zustimmung als vor 25 Jahren.

P.B.: Ja, aber das Steuerhinterzieher-Geheimnis [gemeint ist das Schweizer Bankgeheimnis] lehrt uns, dass sich manche Dinge sehr schnell verändern können. Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass diese heilige Kuh von den Amerikanern geschlachtet werden könnte. Und dass in den Chefetagen der Credit Suisse amerikanische Anwälte jeden Geschäftsvorgang kontrollieren und dafür 600 Millionen Schweizer Franken Honorare kassierten.

Die Schweiz hat eine unheimliche Fähigkeit, sich neuen Verhältnissen anzupassen.

swissinfo.ch: Seit bald vier Jahren verhandelt die Schweiz mit der EU über ein Rahmenabkommen. Christoph Blocher und seine SVP bekämpfen ein solches Abkommen und bezeichnen es als EWR-Beitritt. Sehen Sie das auch so?

P.B.: Ich habe noch nie einen Entwurf eines Rahmenabkommens gesehen. Wir diskutieren über Phantome, welche die SVP an die Wand malt und von den Medien übernommen werden.Die Schweiz und die EU werden auch dieses Problem lösen. Die EU ist nicht irgendeine zentralistische Bürokratie, sondern ein Basar, wo verhandelt wird, bis eine Lösung gefunden ist.

swissinfo.ch: Für bestimmte Schweizer Wirtschaftszweige ist das lange Warten auf eine Basar-Lösung eine Zumutung.

P.B.: Die Wirtschaft ist – abgesehen vom Tourismus – gut bedient. Die Unternehmen haben freien Zugang zum Arbeitsmarkt. Sie können die Rohstoffe zu Weltmarktpreisen beziehen. Ihre zertifizierten Produkte sind im ganzen EU-Raum zugelassen. Es gibt keinen Zwang, hier etwas übers Knie zu brechen. 

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