Wo die Fünfte Schweiz vom Inland abweicht – und wie sehr
Wie haben die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer in den letzten vier Jahren abgestimmt? Die "Schweizer Revue" analysierte 36 Abstimmungen. Hier die Erkenntnisse.
An den Wahlen von 2019 verblüffte die Fünfte Schweiz viele: Sie wählte sehr markant grün. Die Grüne Partei verbuchte im Inland grosse Zugewinne. In der Fünften Schweiz legten die Grünen aber gleich doppelt so stark zu. Doch Wahlen und die vielen nationalen Volksabstimmungen gehorchen unterschiedlichen Gesetzmässigkeiten.
Daher die Fragen: Wie also stimmten die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer bei den Volksabstimmungen der letzten vier Jahre ab? Welchen Einfluss hatten sie jeweils auf das nationale Abstimmungsresultat? Und lassen sich in ihrem Abstimmungsverhalten eingängige, einprägsame Muster erkennen?
Auf der Suche nach einem «Big Picture» hat die «Schweizer Revue» die detaillierten Datensätze der letzten 36 Volksabstimmungen genauer unter die Lupe genommen. Bei gut einem Drittel aller Volksabstimmungen – 14 von 36 – ergeben die Stimmen aus dem Inland und jene aus dem Ausland ein sehr ähnliches Bild. Die Abweichungen liegen bei wenigen Prozentpunkten.
Wer das Abstimmungsverhalten der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer analysieren will, erkennt Grenzen. In erster Linie gilt es festzuhalten, dass die Fünfte Schweiz kein eigener Wahlkreis ist. Abgestimmt wird im Heimatkanton. Aber nicht alle Kantone weisen die aus dem Ausland eintreffenden Stimmen separat aus.
Detaillierte Angaben zum Stimmverhalten der Fünften Schweiz machen die zwölf Kantone Aargau (AG), Appenzell-Innerrhoden (AI), Basel-Stadt (BS), Freiburg (FR), Genf (GE), Luzern (LU), St. Gallen (SG), Thurgau (TG), Uri (UR), Waadt (VD), Wallis (VS) und Zürich (ZH).
Diese Teilmenge vereint ländliche und urbane Kantone, vereint Deutschschweiz und lateinische Schweiz – und sie ist gross: Sie umfasst 60 Prozent aller Stimmberechtigten der Schweiz und 60 Prozent der eingetragenen Stimmberechtigten der Fünften Schweiz.
Vor allem aber verhält sich diese etwas unförmige, unvollständige «Zwölf-Kantone-Schweiz» an der Urne weitestgehend sehr ähnlich wie die Schweiz als Ganzes. Bei 34 der 36 Abstimmungen der zu Ende gehenden Legislatur (2019-2013) waren die Abweichungen der Resultate gering, im Schnitt weniger als +/- 1 Prozentpunkt. Bei zwei Abstimmungen waren die Differenzen markant. Die Folgerung: Die zwölf Kantone bilden eine aussagekräftige Teilmenge; die Inlandstimmen und die Auslandstimmen der zwölf Kantone gegenüberzustellen, ergibt ein akkurates Bild.
Diese wenig signifikanten Abweichungen erlauben als simple erste Aussage: Oft stimmt die Fünfte Schweiz einfach gleich wie die Schweiz als Ganzes. Einer vertieften Betrachtung unterzogen wurden in der Folge Abstimmungsresultate mit Abweichungen von 5 und mehr Prozentpunkten. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse:
Die Verstärkerrolle
Die Fünfte Schweiz spielt gerne die Verstärkerrolle. Sie verstärkte bei 14 von 36 Vorlagen den im Inland gereiften Konsens, quittierte also beispielsweise ein Inland-Ja mit einem weit markanteren Ja aus der Ferne. Insbesondere in wertebasierten, gesellschaftspolitischen Fragen wirkte die Fünfte Schweiz in diesem Sinne akzentuierend.
So sagte die Fünfte Schweiz überdurchschnittlich stark Ja zur Einführung eines Vaterschaftsurlaubs (Abweichung +18,2 Prozentpunkte), zum Paradigmenwechsel bei der Organspende (+16,2), zur Erhöhung des AHV-Alters für Frauen (+7,5) sowie zur Ehe für alle (+7,1).
Ein Nein verstärkten die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer bei der Initiative zur Begrenzung der Zuwanderung. Ihre Ablehnung lag um gut 15 Prozentpunkte höher als das Nein der Inlandschweiz. Sie war in all diesen Themenfeldern alles andere als eine Gegenkraft.
Der Kontrapunkt
Bei einem Viertel aller Abstimmungen – bei 9 von 36 – hatten die Abstimmenden im Inland und jene im Ausland das Heu gar nicht auf der gleichen Bühne: Hier stehen klaren Nein-Resultaten im Inland ebenso klare Ja-Resultate in der Fünften Schweiz gegenüber – oder umgekehrt.
Hier zeigt sich die Verbindung zum grünen Wahlergebnis von 2019: Die Rolle als Kontrapunkt, als Korrektiv, spielte die Fünfte Schweiz primär bei grünen, ökologischen Fragestellungen. Sie sagte – im Gegensatz zur Schweiz als Ganzes – ja zur Trinkwasser-Initiative, ja zum CO2-Gesetz und ja zur Initiative gegen Massentierhaltung.
Den mit Abstand stärksten Kontrapunkt setzte die Fünfte Schweiz beim CO2-Gesetz, das 2021 an der Urne scheiterte: Die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer nahmen das Gesetz mit 72,2 Prozent wuchtig an – eine Differenz von fast 23 Prozentpunkten zum Gesamtresultat.
Erstes Fazit: Ein Dreiklang
Die Auswertung der 36 Abstimmung der zu Ende gehenden Legislatur zeigt als grobes Bild: Die Fünfte Schweiz stimmt erkennbar eigenständig ab, ist aber in keiner Weise ein unberechenbares, exotisches und oppositionelles Elektorat, das es zu fürchten gilt.
Ihr Profil ist geprägt von einem Dreiklang aus Bestätigen, Verstärken und Gegensteuer geben. Verstärkend bei wertebasierten, gesellschaftspolitischen Fragen; Gegensteuer gebend bei ökologischen Themen, die im Inland einen schweren Stand haben.
Zweites Fazit: Keine Vetomacht
Und: Die Fünfte Schweiz ist keine Vetomacht. Sie spielte bei keiner der 36 Abstimmungen der zu Ende gehenden Legislatur das entscheidende Zünglein an der Waage. Ihr Gewicht ist zu gering. Die registrierten Stimmberechtigen der Fünften Schweiz machen nur rund vier Prozent des gesamten Stimmkörpers aus.
Das reicht aus, um mit einem sehr klaren Votum das Gesamtergebnis geringfügig – um rund +/- 0,5 Prozentpunkte – zu beeinflussen. Meistens führen die Stimmen aus dem Ausland aber zu weit kleineren Verschiebungen. Im Schnitt aller Abstimmungen lag der Effekt bei bloss 0.2 Prozentpunkten.
Drittes Fazit: Durchschnittlich folgsam
Eine seit längerem bekannte These lautet: Abstimmungsvorlagen, die von der Behörde selbst eingebracht werden, finden in der Fünften Schweiz oft mehr Zustimmung als im Inland. Die letzten 36 Abstimmungen widersprechen dieser These nicht.
Nehmen wir aber die Abstimmungsempfehlungen des Bundesrats als Ausgangspunkt, ist die «Folgsamkeit» diesseits und jenseits der Schweizer Grenze in etwa gleich stark ausgeprägt. Im Inland verweigerte das Elektorat dem Bundesrat in zwölf Abstimmungen die Gefolgschaft. Die Stimmberechtigten im Ausland folgten ihm in 13 Fällen nicht, erreichten also in etwa den gleichen «Folgsamkeitsfaktor».
Viertes Fazit: Politisches Gewicht wächst
So klein der Einfluss der Fünften Schweiz auch sein mag: ihr politisches Gewicht wächst. Die Zahl der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer, die sich ins Stimmregister eintragen lassen, steigt stetig. Und sie steigt relativ betrachtet dreimal stärker als die Gesamtheit der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer. Gemäss Bundesamt für Statistik waren es per 31. Dezember 2022 gut 227’000 Eingetragene. Punkto politisches Gewicht ist die Fünfte Schweiz somit im Begriff, den Kanton Tessin zu überflügeln.
Bei der Publikation von Abstimmungsergebnissen wird meistens – auch von der «Schweizer Revue» – das Gesamtergebnis dem Abstimmungsverhalten der Fünften Schweiz gegenübergestellt. Dies führt aber zu einer leichten Unschärfe: Im Gesamtergebnis sind nämlich auch die Stimmen aus der Fünften Schweiz enthalten.
Das Redaktionsteam der «Schweizer Revue» hat deshalb bei ihrer Nachbetrachtung der Datensätze die Abstimmungsergebnisse aller Kantone bereinigt: Einander gegenübergestellt wurden die reinen Inlandstimmen und die reinen Auslandstimmen. Dank dieser Bereinigung werden die Abweichungen im Stimmverhalten klarer.
Die kleinste Abweichung zwischen Inland- und Auslandresultat lag bei 1.1 Prozentpunkten, dies bei der Abstimmung über die Stärkung der Pflegeberufe (2021). Die grösste Abweichung zeigte sich mit knapp 22.8 Prozentpunkten bei der Abstimmung übers CO2-Gesetz (2021). Für die Suche nach den groben Mustern im Abstimmungsverhalten der Fünften Schweiz wurden Abstimmungen mit einer Abweichung von mindestens 5 Prozentpunkten berücksichtigt. (MUL/TP)
Dieser Artikel erschien zuerst in der Schweizer RevueExterner Link.
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