«Ich sehe kein Handicap, sondern Kinder mit anderen Qualitäten»
Wo die Menschen wegschauen, richtet Fernand Melgar seine Kamera drauf. Sein neuer Film "A l'école des philosophes", der am Donnerstag die 53. Solothurner Filmtage eröffnet, erzählt die Geschichte von Kindern in einer Spezialschule. Der Schweizer Regisseurs hofft, dass sein Film dazu beiträgt, die Sichtweise auf Behinderungen und Unterschiede in unserer Gesellschaft zu verändern.
Schulbeginn in der Rue des Philosophes in Yverdon im Kanton Waadt. Vor der Kamera von Fernand MelgarExterner Link kreuzen sich die Schicksale von drei Mädchen und zwei Knaben. Louis und Léon haben eine Form von Autismus, Albiana eine Art Trisomie. Kenza ist mehrfach behindert, Chloé hat eine Erbkrankheit. Mit Unterstützung von Fachleuten müssen die Kinder ihre Schwierigkeiten überwinden, um das «Schülersein» zu lernen, wie die Pädagogin Adeline es nennt.
Die Schreie, Ängste und Aufregungen weichen langsam aber sicher dem Lächeln, dem Schalk, der gegenseitigen Unterstützung. Der Regisseur hält die Fortschritte fest, die leuchtenden Augen der Eltern, die ihr verletzliches Kind zum ersten Mal Dritten anvertrauen. Die kleinen Siege vereiteln manchmal die medizinischen Prognosen. Trotz der Unwägbarkeiten des Lebens, trotz der Behinderung entsteht eine ansteckende Fröhlichkeit unter den Augen der Betrachter.
Vier Jahre nach «Abri», dem Dokumentarfilm über Obdachlose, weiht Fernand Melgar die Solothurner FilmtageExterner Link mit «A l’égole des philosophes» ein. Der Regisseur setzt damit setzt Engagement fort, Menschen am Rand der Gesellschaft ins Licht zu rücken.
swissinfo.ch: Sie haben sich mit Ihren Filmen über Asyl und Migration einen Namen gemacht. Warum interessieren Sie sich diesmal für Behinderungen?
Fernand Melgar: Das Thema ist sicherlich ein wenig anders, aber mein Kino ändert sich nicht. Das Anderssein, der Blick auf das Andere, die Akzeptanz des Unterschieds, die Werte, die ich zu verteidigen versuche, finden sich in allen meinen Filmen.
Ich interessiere mich für diese spezialisierte Schule und diese kleine Gruppe von Kindern, weil ich mich frage, welcher Stellenwert dem Zusammenleben heute eingeräumt wird in einer Gesellschaft, die zunehmend auf Leistung und Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet ist.
Im Jahr 2016 akzeptierte das Schweizer Stimmvolk die Präimplantationsdiagnostik, und ich war auch dafür, weil es wichtig ist, dass Eltern, die eine Krankheit übertragen können, die Möglichkeit haben, sich zu entscheiden. Aber, die meisten Kinder, die man im Film sieht – insbesondere Albiana, die eine Art Trisomie hat – wären nicht auf der Welt. Ich stelle also den Begriff der Menschlichkeit in Frage. Ab wann sind wir Menschen?
swissinfo.ch: Sie haben diese Kinder fast anderthalb Jahre lang begleitet. Wie haben Sie den Ort und die Protagonisten des Films ausgewählt?
F.M.: Ich habe mich für die Schule der Stiftung Verdeil in Yverdon entschieden, weil sie sich im Herzen der Stadt befindet. Meistens werden solche Institutionen eher an der Peripherie angesiedelt. Ohne es zuzugeben, haben wir den Wunsch, Menschen mit Behinderungen zu verstecken. Darüber hinaus war diese Klasse eine einzigartige Gelegenheit zu beobachten, wie sich eine Gruppe bildet, weil alle Schüler neu in die Klasse eintraten und es von Grund auf begann.
Als ich alle Familien zusammenbrachte, um herauszufinden, ob sie damit einverstanden waren, dass ich an der Schule einen Film drehe, stimmten sie alle zu. Eine Mutter fügte sogar hinzu: «Endlich interessiert man sich für uns!»
Damit war die Sache aber noch nicht ganz aufgegleist. Die Kinder und ich mussten uns gegenseitig zähmen. Sie sind häufig sehr ausdrucksstark und direkt. Das kann einen anfänglich ein bisschen aus der Fassung bringen. Sie drücken sich weniger mit Worten aus, sondern mit anderen Mitteln. Wenn sie unglücklich sind, schreien sie. Wenn sie glücklich sind, umarmen sie dich. Dieser sehr direkte Bezug beeindruckte mich ausserordentlich und stützte mich während der Dreharbeiten.
swissinfo.ch: Zu Beginn des Films scheint die Welt unüberschaubar, die Situation chaotisch. Dann stellt man fest, dass jedes Kind Fortschritte macht, manchmal gegen alles, und dann stellt sich eine Harmonie innerhalb der Gruppe ein. Wie geschieht dieses kleine «Wunder»?
F.M.: Dazu tragen eine Reihe von Zutaten bei, von denen die erste die Liebe ist. Ich war geblendet von der Liebe, die diesen Kindern entgegengebracht wird, nicht nur von den Eltern, sondern auch von den Fachleuten. Sie bringt die Kinder zum Blühen. Zu Beginn des Films ist Kenza, ein mehrfach behindertes Kind, amorph. Irgendwann sieht man, dass Kenza den Kopf hebt und lächelt. Dies ist eine der schönsten Szenen im Film. Sie bewegt mich sehr, weil sie mich dazu bringt, an die Menschlichkeit zu glauben. Dies zeigt, wie Bildung jeden Menschen fördern kann, unabhängig davon, ob er behindert ist oder nicht. Das Leben findet immer einen Weg.
swissinfo.ch: Heute sind Integrationsschulen im Trend. Sind Sie der Meinung, dass spezialisierte Schulen den Bedürfnissen behinderter Kinder besser entsprechen?
F.M.: Nein, jeder Fall ist individuell. In den letzten Jahren hat es jedoch einen Trend gegeben, behinderte Kinder mit der Brechstange in den regulären Unterricht zu integrieren. Die Absicht ist gut, aber das Ergebnis ist nicht immer zufriedenstellend. In einigen Fällen werden behinderte Kinder im Klassenzimmer geächtet. Einige Lehrer fühlen sich hilflos. Leon, eines der Kinder des Films mit einer Form von Autismus, kann jetzt ein bis zwei Tage in der Woche in einer normalen Schule verbringen. Das ist ein wichtiger Schritt für ihn. Zu Beginn der Dreharbeiten war er total verschlossen. Mit anderen Schülern ist eine solche Integration jedoch nicht möglich. Es gibt keine feste Regel. Das Kind muss im Mittelpunkt jeder Entscheidung stehen, und wir dürfen nicht einfach eine Grundsatzentscheidung treffen.
swissinfo.ch: Haben diese Dreharbeiten Ihre Sicht gegenüber Behinderungen verändert?
F.M.: Ich sehe das Handicap nicht mehr, ich sehe Kinder, die andere Qualitäten entwickelt und ihre Eigenheiten haben. Ich habe eine Menge über Leute gelernt, von denen man den Blick eher abwendet. Ich habe den Eindruck, dass unsere Gesellschaft Behinderungen mit einer gewissen Gleichgültigkeit begegnet. Wir sind uns bewusst, dass es Institutionen gibt, die sich darum kümmern.
Wir fühlen uns unwohl, wenn jemand mit einer Behinderung neben uns sitzt und wir interagieren sollten.
Aber das sind Menschen, die das Recht haben, Teil der Gesellschaft zu sein, wie jeder andere auch, und die Fähigkeit, uns etwas zu geben. Ich hoffe, dass der Film dazu beitragen wird, die Sichtweise des Zuschauers auf diese Kinder zu verändern.
Der Regisseur
Fernand Melgar wurde 1961 in Marokko in einer Familie spanischer Gewerkschafter geboren, die während der Franco-Zeit ins Exil geschickt wurden. Im Alter von zwei Jahren nahmen ihn seine Eltern heimlich mit in die Schweiz, wo sie als Saisoniers arbeiteten. 1980 gründete Fernand Melgar das Cabaret Orwell in Lausanne, die Wiege der Underground-Musik aus der Westschweiz. Drei Jahre später gab er sein Filmdebüt. Mit seinen Dokumentarfilmen über die Aufnahme und Ausweisung von Asylsuchenden – «La Forteresse» (2008), «Vol Spécial» (2012) und «L’Abri» (2014) – hat er zahlreiche Preise gewonnen und lebhafte politische Debatten ausgelöst.
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch