Die Witwenrente: Ein Erbe, das es zu entstauben gilt
In der Schweiz diskriminiert die Hinterbliebenenrente die Männer – und lesbische Frauen gleich doppelt. So etwa Béatriz Hernandez, die nach dem Tod ihrer Frau keinen Anspruch auf die Leistung hat. Die Ehe für alle würde das Problem nur teilweise lösen.
Béatriz Hernandez ist eine Frau. Das Schweizer Recht betrachtet sie als Mann.
Die Geschichte beginnt im Jahr 2004. Die Kubanoamerikanerin lernte Isabelle kennen, eine schweizerisch-spanische Opernsängerin. Die beiden Frauen verliebten sich und begannen, ihr Leben zwischen Genf und New York zu teilen. Im Jahr 2009 heirateten sie in Spanien und gingen in der Schweiz eine eingetragene Partnerschaft ein, eine Form der Lebenspartnerschaft, die Homosexuellen vorbehalten ist und nicht die gleichen Rechte wie die Ehe verleiht.
Zu Beginn ihrer Beziehung hatte Isabelle den Eierstockkrebs überwunden. Ein paar Jahre später kehrte die Krankheit zurück. «2010 zog ich für immer in die Schweiz, um bei meiner Frau zu sein», sagt Béatriz Hernandez. Nach einem langen Kampf mit der Krankheit verstarb Isabelle 2015 im Alter von 48 Jahren.
Neben der Trauerbewältigung befand sich Béatriz Hernandez auch in einer prekären finanziellen Situation. Trotz einer Teilzeitbeschäftigung beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz wurde das Leben in Genf schwierig. «Es war hauptsächlich Isabelle, die für das Einkommen sorgte», sagt die amerikanische Staatsbürgerin.
Einem Mann gleichgestellt
Im Laufe des Verwaltungsverfahrens erfuhr sie, dass sie keinen Anspruch auf eine Witwenrente hat. Dieser gilt für heterosexuelle Witwen über 45 Jahre, die seit mehr als fünf Jahren verheiratet sind. Das Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) sieht jedoch eine Sonderbehandlung für Frauenpaare vor: Die überlebende eingetragene Partnerin wird nämlich wie ein Witwer behandelt. Und für Männer gibt es keine Witwerrente, wenn sie keine Kinder haben, was bei Béatriz Hernandez der Fall ist.
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Béatriz Hernandez war schockiert, dass sie von der Gesetzgebung als Mann betrachtet und ihr somit eine Sozialleistung vorenthalten wurde. «Ich fand es entwürdigend», sagt sie. Sie empfand das als Diskriminierung und brachte ihren Fall vor die Schweizer Gerichte, jedoch erfolglos. Daraufhin wandte sie sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), wo ihre 2018 eingereichte Klage immer noch anhängig ist.
In der Zwischenzeit musste Béatriz Hernandez nach New York zurückzukehren: «Finanziell konnte ich es mir nicht mehr leisten, in Genf zu leben.» Sie schätzt, dass sie eine Rente von etwa 1300 Franken monatlich erhalten hätte. «Mein Kampf ist in erster Linie ethischer Natur, aber dieses Geld hätte mir eine gewisse finanzielle Absicherung gegeben», sagt sie.
Eine Witwe oder ein Witwer kann zwischen 956 und 1912 CHF pro Monat erhalten (für eine volle Versicherungsdauer). Dieser Betrag entspricht 80% der AltersrenteExterner Link, die dem durchschnittlichen Jahreseinkommen der oder des Verstorbenen entspricht. Im Jahr 2019 betrug die durchschnittliche Witwenrente 1599 Franken, die durchschnittliche Witwerrente 1289 Franken. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Frauen im Durchschnitt weniger verdienen als Männer.
Im Jahr 2019 zahlte die AHV 47’787 Witwenrenten und 1594 Witwerrenten aus. Insgesamt erhielten Frauen Witwenrenten in der Höhe von 138’944’000 Franken (98%), Männer Witwerrenten in der Höhe von 2’304’000 Franken (2%).
Eine Rente, die Männer benachteiligt
Der diskriminierende Charakter der Hinterbliebenenrente gegenüber Männern wurde bereits vom EGMR anerkannt. In einem Urteil vom Oktober 2020 wurde die Schweiz wegen der Beschwerde eines Einwohners von Appenzell Ausserrhoden wegen Benachteiligung aufgrund des Geschlechts verurteilt.
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Er zog seine beiden Kinder allein auf, nachdem er seine Frau bei einem Unfall verloren hatte. Als seine jüngste Tochter 18 Jahre alt wurde, fiel seine Witwerrente weg, da ein Mann den Anspruch auf diese Leistung verliert, wenn sein letztes Kind volljährig wird. Für Witwen gibt es keine solche Einschränkung.
Der EGMR kam zum Schluss, dass die Schweiz gegen das Diskriminierungsverbot verstösst, das das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens garantiert. Das Urteil ist jedoch noch nicht rechtskräftig, da der Bund die Entscheidung angefochten hat.
Lesben doppelt diskriminiert
Im Lichte des Appenzeller Falles sollte die Schweiz auch im Fall von Béatriz Hernandez wegen Diskriminierung verurteilt werden. Das ist zumindest die Meinung von Julien Martin, dem Anwalt der Klägerin. «Rechtlich und technisch sind die beiden Fälle ähnlich», sagt er.
Der Unterschied liege darin, dass sein Mandantin Opfer einer doppelten Diskriminierung sei. Da das Gesetz sie als Witwer betrachtet, wird Béatriz Hernandez aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert – einem Mann gleichgestellt hat sie keinen Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente. Hinzu kommt eine Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Ausrichtung – denn sie hätte die Leistung erhalten, wäre sie mit einem Mann verheiratet gewesen. «Hier wird eine Person mit dem männlichen Geschlecht gleichgesetzt, um sie den ungünstigsten Bedingungen zu unterwerfen», beklagt Julien Martin.
Der Anwalt ist auch überrascht über die «ungewöhnlich lange» Bearbeitungszeit des Antrags seiner Mandantin. Der EGMR hat trotz der Mahnungen von Julien Martin noch immer nicht über die Zulässigkeit des Verfahrens entschieden. «Mit diesem Einkommen hätte Frau Hernandez wieder auf die Beine kommen können. Die Dauer des Verfahrens ist psychisch und finanziell anstrengend», sagt ihr Verteidiger.
Ein System aus einer anderen Zeit
Julien Martin plädiert für aktualisierte Bedingungen bei der Gewährung von Hinterbliebenenrenten: «Sie entsprechen nicht mehr den Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft.» Das System stützt sich ausschliesslich auf das Funktionieren der traditionellen heterosexuellen Familie. Die Unterscheidung zwischen Witwen und Witwern beruht auf der Vorstellung, dass der Mann arbeitet, um die Familie zu ernähren, während die Frau sich um den Haushalt und die Kinder kümmert. Der Anteil der erwerbstätigen Frauen in der Schweiz lag im Jahr 2019 jedoch bei 60%, wie aus den neuesten ZahlenExterner Link des Bundesamts für Statistik (BFS) hervorgeht.
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Die Schweizer Regierung räumt selbst einExterner Link, dass diese Auffassung, die bei der Einführung der Witwen- und Waisenrenten im Jahr 1948 und der Witwerrente im Jahr 1997 vorherrschte, überholt ist. Im Anschluss an die Annahme eines Postulats Externer Linkim Parlament soll der Bundesrat einen Bericht ausarbeiten, in dem er prüft, wie diese Ungleichbehandlungen beseitigt werden können.
Die «Ehe für alle» wird die Regeln verändern
Die Einführung der «Ehe für alle», sofern sie in der Abstimmung am 26. September angenommen wird, wird die Diskriminierung lesbischer Frauen beseitigen. Wie aus dem Bericht der Rechtskommission des Nationalrates hervorgeht, werden sie in Zukunft den heterosexuellen Ehefrauen gleichgestellt. Sie werden nun als Frauen betrachtet und haben Anspruch auf eine Witwenrente, wenn sie Kinder haben oder über 45 Jahre alt sind. Ähnliche Fälle wie der von Béatriz Hernandez sollten nicht mehr vorkommen.
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Das Problem wird damit jedoch nicht prinzipiell gelöst, da die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen bestehen bleibt. «Weibliche Paare werden gegenüber zwei verheirateten Männern und Heterosexuellen privilegiert sein. Es gibt keinen objektiven Grund, der dieses Privileg rechtfertigt», sagt Basile Cardinaux, Professor für Sozialversicherungsrecht. Er ist der Ansicht, dass der Anspruch auf Witwenrente bei Kinderlosigkeit abgeschafft werden sollte, um ein gleiches System zu gewährleisten.
Berücksichtigung der pflegenden Angehörigen
Die Rechtsexpert:innen haben unterschiedliche Ansichten darüber, wie die Hinterbliebenenrenten genau reformiert werden sollten, aber in einem Punkt sind sich alle einig: Alle sollten gleich behandelt werden, egal ob Mann oder Frau. Anne-Sylvie Dupont, Juristin und Professorin für Sozialversicherungsrecht an den Universitäten Neuenburg und Genf, ist der Ansicht, dass die Rente nur dann gewährt werden sollte, wenn die Witwe oder der Witwer unterhaltsberechtigte Kinder hat. Und dass sie ihnen entzogen werden sollte, sobald diese volljährig sind oder ihr Studium abgeschlossen haben.
Sie würde jedoch Ausnahmen zulassen: Etwa wenn jemand die Arbeit unterbrochen hat, um sich um eine kranke Person zu kümmern, das heisst, wenn sie die Rolle einer Pflegeperson übernimmt.
Die Expertin erinnert daran, dass man einen finanziellen Schaden erlitten haben muss, um eine Sozialleistung zu erhalten. Ein Todesfall verschlechtert jedoch nicht unbedingt die wirtschaftliche Lage eines Haushalts. «Wenn der Gesundheitszustand einer Person beeinträchtigt ist, wird sie gebeten, schnell an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Andererseits hat der Tod immer noch eine Art Aura, die die Abhängigkeit von der Gemeinschaft rechtfertigt, manchmal ein Leben lang», sagt sie. Anne-Sylvie Dupont plädiert daher für ein «kreativeres» System, wie beispielsweise «zeitlich begrenzte oder degressive Renten, um die Rückkehr in den Beruf zu fördern.»
(Übertragung aus dem Französischen: Giannis Mavris)
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