Finanzierung der Renten auf Messers Schneide
Die Schweizer und Schweizerinnen stimmen am Sonntag über eine der wichtigsten Reformen der letzten Jahre ab: Mit der Vorlage "Altersvorsorge 2020" soll die Finanzierung der Renten bis 2030 gesichert werden. Die Vorlage wird von rechts und teilweise auch links bekämpft, der Entscheid könnte daher knapp ausfallen. Unbestritten ist hingegen ein Beschluss über die Ernährungssicherheit.
Die letzte Revision der beruflichen Vorsorge in der Schweiz fand im Jahr 1997 statt. In den letzten 20 Jahren sind sämtliche Reformversuche gescheitert – entweder im Parlament oder an der Urne.
Mit der Altersvorsorge 2020 hoffen die Schweizer Regierung und eine Parlamentsmehrheit, endlich den Kompromiss gefunden zu haben, der die Hürde der Urne schafft. Ziel der Reform ist es, die Finanzierung der Sozialwerke in den Jahren von 2020 bis 2030 sicherzustellen – trotz der wirtschaftlichen, sozialen und demografischen Herausforderungen.
Das 3-Säulen-Prinzip der Schweizer Altersvorsorge
Das Schweizer System der Altersvorsorge basiert auf drei Säulen.
Die erste ist die staatliche Vorsorge: Jede in der Schweiz wohnhafte Person muss Beiträge in die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) einzahlen. Sie ist eine Grundversicherung, die den Existenzbedarf garantiert für Rentnerinnen und Rentner ab 65 Jahren sowie Waisen, Witwen und Hilflose.
Die zweite Säule ist die berufliche Vorsorge: Sie ist eine obligatorische, private Versicherung, an die Arbeitnehmende und Arbeitgeber zu gleichen Teilen Beiträge zahlen, die später in Form einer Rente oder von Kapital zurückbezahlt werden.
Die dritte Säule ist die private Vorsorge. Sie ist freiwillig und kann bis zu einem gewissen Betrag von den Steuern abgezogen werden.
Wirtschaftskrise und Überalterung der Bevölkerung
Wirtschaftlich befindet sich die Altersvorsorge in einem schwierigen Umfeld: Krisen nehmen zu und schwächen das Wachstum, die lange Zeitspanne von tiefen Zinsen belasten die Erträge der Vorsorgeeinrichtungen und bedrohen somit die Renten. Auf gesellschaftlicher Ebene will die Reform den Veränderungen entgegenkommen, die auf dem Arbeitsmarkt im Gang sind, und den Bestrebungen für ein flexibles Pensionierungsalter Rechnung tragen.
Der grösste Knackpunkt bildet aber die demographische Entwicklung: Während vor 50 Jahren die Lebenserwartung der Frauen bei 74 Jahren und die der Männer bei 68 Jahren lag, ist sie heute auf 84 resp. 80 Jahre gestiegen.
Auch das Verhältnis zwischen der aktiven Bevölkerung und den Pensionierten verschiebt sich: Vor 50 Jahren kamen auf einen Pensionierten fünf berufstätige Personen zwischen 20 und 64 Jahren. Heute kommen auf einen Rentenempfänger noch etwas mehr als drei Rentenfinanzierer. Dieses Verhältnis wird sich in den nächsten Jahren durch die schrittweise Pensionierung der Babyboomer-Generation weiter verschieben.
Ohne Korrekturmassnahmen werden die zwei Säulen der Altersvorsorge ziemlich bald in die roten Zahlen abrutschen. Basierend auf den Szenarien der Regierung, wird die staatliche Vorsorge AHV – wie die Alters- und Hinterlassenenversicherung im Volksmund heisst – im Jahr 2025 ein Defizit von drei Milliarden Franken und im Jahr 2030 ein Defizit von sieben Milliarden Franken aufweisen. Auch die berufliche Vorsorge der Pensionskassen und Versicherungen (also die zweite und die dritte Säule der Altersvorsorge) wird den jetzigen Rentenstandard nicht halten können.
Umfassende Reform der Altersvorsorge
Um die zusätzlichen Lasten gerecht zu verteilen und einen mehrheitsfähigen Konsens zu erreichen, hat die Regierung eine Vorlage zu einer umfassenden Reform der Altersvorsorge präsentiert, die sowohl die erste wie die zweite Säule betrifft.
Die Altersreform 2020 wird von den Mitte-Parteien und der Linken – der Christlichdemokratischen Volkpartei (CVP), der Bürgerlich Demokratischen Partei (BDP), den Grünliberalen (GL), der Sozialdemokratischen Partei (SPS) und den Grünen – unterstützt. Für sie ist es eine ausgewogene Reform, die die Renten sichert und die AHV stärkt.
Dagegen sind vor allem die Parteien vom mehrheitlich rechten Spektrum, die FDP. Die Liberalen und die Schweizerische Volkspartei (SVP). Für sie ist die Reform ungerecht und ungeeignet, um die Probleme der Altersvorsorge zu lösen. Die Altersreform wird auch von kleineren Gewerkschaften und linken Gruppierungen bekämpft, die vor allem die Erhöhung des Rentenalters für Frauen und die Senkung der Renten ablehnen.
Laut Umfragen hätte das Schweizer Stimmvolk Anfang September die Altersreform äusserst knapp angenommen. Allerdings ging im Trend die Zustimmung leicht zurück. Es könnte daher sehr knapp werden.
Ernährungssicherheit so gut wie angenommen
Gemäss Umfragen erscheint fast sicher, dass die Verankerung der Ernährungssicherheit in der Verfassung angenommen wird. Die Vorlage stösst kaum auf Widerstand.
Der Verfassungsartikel geht auf die Volksinitiative «Für ErnährungssicherheitExterner Link» zurück, die 2014 vom Schweizer Bauernverband lanciert worden war. Ziel war die Stärkung der Lebensmittelversorgung aus einheimischer Produktion. Die Initiative verlangte, dass der Bund Massnahmen gegen den Verlust von Kulturland erlässt und sicherstellt, dass der administrative Aufwand in der Landwirtschaft gering ist.
Das Parlament befand den Initiativtext für «zu vage». Bundesrat und Parlament stellten der Initiative deshalb einen direkten Gegenvorschlag gegenüber, der das Anliegen präziser und vollständiger aufgreift. Berücksichtigt wird die ganze Lebensmittelkette, vom Feld bis auf den Teller.
Die Bauernorganisation liess sich vom Gegenvorschlag überzeugen und zog ihre Initiative zurück. Am 24. September wird daher einzig über den Gegenvorschlag abgestimmt. Die Abstimmung ist nötig, da es sich um eine Verfassungsänderung handelt.
Die wichtigsten Punkte zur Altersreform 2020, über die am 24. September abgestimmt wird
- Rentenalter der Frauen steigt auf 65: Ab 2018 wird das Rentenalter der Frauen schrittweise von heute 64 auf 65 Jahre erhöht. Vorgesehen ist eine schrittweise Erhöhung von drei Monaten pro Jahr ab 2018.
- Flexibilisierung des Altersrücktritts: Die Reform ermöglicht den flexiblen Altersrücktritt zwischen 62 und 70 Jahren. Gehen die Versicherten mit 65 in Pension, erhalten sie die volle Rente, gehen sie früher, wird die Rente gekürzt, gehen sie später, wird sie erhöht.
- Umwandlungssatz der Pensionskassen sinkt auf 6 Prozent: Der Umwandlungssatz, mit dem das in der obligatorischen beruflichen Vorsorge angesparte Kapital in eine Rente umgewandelt wird, wird bis 2021 von heute 6,8% schrittweise auf 6,0% gesenkt. Damit soll die 2. Säule stabilisiert werden.
- AHV-Rente wird um 70 Franken erhöht: Ab 2019 erhalten die neuen AHV-Bezüger zum Ausgleich monatlich einen Zuschlag von 70 Franken. Der Plafond für Ehepaare wird dabei von 150 auf 155% erhöht. Aktuell ist die minimale AHV-Rente bei 1175 Franken, die maximale Rente bei 2350 Franken.
- 0,3 Prozentpunkte mehr Lohnabzüge: Die AHV-Lohnabzüge werden um 0,3 Prozentpunkte erhöht.
- 0,6 Prozentpunkte mehr Mehrwertsteuer: Die Mehrwertsteuer soll in zwei Stufen um 0,6% erhöht werden. Ab 2018 fliessen 0,3 MWST-Prozente, die aktuell für die Invalidenversicherung (IV) bestimmt sind, in die AHV. Am 1. Januar 2021 wird die Mehrwertsteuer zugunsten der AHV um 0,3% erhöht.
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