Hindernisfrei wählen
Am 7. März können im Kanton Genf erstmals Menschen mit schwerer geistiger oder psychischer Behinderung abstimmen und wählen. Einfach ist das für den 25-jährigen Autisten Sébastien Martone nicht – aber wichtig.
Noch kann Sébastien Martone mit den Abstimmungsunterlagen, die vor ihm auf dem Wohnzimmertisch in Chêne-Bougeries liegen, nicht viel anfangen. Zu abstrakt sind das Wählen und Abstimmen für den 25-jährigen Autisten aus Genf.
Kein Wunder, bis vor kurzem war das auch kein Thema für ihn, denn Sébastien Martone und andere Personen unter umfassenden Beistand waren vom Wahl- und Stimmrecht ohnehin ausgeschlossen, so wie das auf Bundesebene weiterhin der Fall ist.
Im Kanton Genf dürfen sie neu politisch mitbestimmen, das hat die Bevölkerung im November 2020 mit 75% der Stimmen beschlossen. Rund 1200 Personen sollen nun mitreden können – wenn auch nur auf Gemeinde- und Kantonsebene.
Im November 2020 beschloss Genf das Stimmrecht für Behinderte. Mehr Informationen finden Sie hier:
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Historisch: Genf erteilt Behinderten das Stimmrecht
Keine Mitsprache auf nationaler Ebene
«Teilrechte» steht deshalb auf den Abstimmungsunterlagen von Sébastien. Mutter Marylou Martone hilft beim Sortieren der Papiere und Couverts. Auf der oberen Hälfte des Abstimmungszettels, wo die eidgenössischen Vorlagen stehen, sind die Antwortkästchen Ja und Nein geschwärzt – anders als bei seinem 28-jährigen Bruder Sam, der keine Behinderung und somit das volle Stimmrecht hat. Dennoch freut sich Sébastien Martone, dass er am 7. März zumindest auf kantonaler Ebene zum ersten Mal abstimmen darf: «Ich bin wie alle anderen auch!»
Das sieht auch die UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen so, die die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Behindertenorganisationen wie Inclusion HandicapExterner Link oder Insieme SchweizExterner Link setzen sich deshalb dafür ein, dass diese Konvention auch angewendet wird.
«Doch das allein reicht nicht. Damit diese Rechte tatsächlich ergriffen werden können, braucht es Begleitmassnahmen», sagt Jérôme Laederach. Er ist Geschäftsführer der Fondation Ensemble und Präsident von INSOS GenfExterner Link, dem Dachverband der Dienstleistungsanbieter für Menschen mit Behinderung. Erste Projekte gibt es bereits: Wohnheime haben Kurse zu Bürgerrechten organisiert, das Genfer Rathaus bot Führungen an und Insieme Schweiz hat für die eidgenössischen Wahlen 2019 eine Wahlanleitung in leichter Sprache veröffentlicht.
Dies fände auch Sébastien Martone hilfreich. Die Namen der Kandidatinnen und Kandidaten für die Ersatzwahl des Staatsrats kennt er zwar von den Wahlplakaten in den Strassen, die er jeweils aufmerksam liest. Doch wen er wählen soll, weiss er nicht. Auch die Abstimmungsfrage findet Sébastien Martone kompliziert.
Er liest vor: «Nehmen Sie das Gesetz zur Entschädigung des Einkommensverlusts in Zusammenhang mit den Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus vom 25. Juni 2020 an?» Seine Mutter versucht, die Vorlage zu erklären. Ihr ist wichtig, dass ihr Sohn dieses neue Recht besitzt, auch wenn er sich eher für Tier- und Umweltschutz als für Wirtschaftspolitik und Steuerfragen interessiert.
«Ich bin stolz, dass Sébastien nun auch abstimmen darf. Selbst, wenn er dieses Mal leer einlegen würde – auch dieses Recht hat er.» Schliesslich sei die Stimmbeteiligung auch im Rest der Bevölkerung tief.
Ein grosses Herz reicht nicht
Wie wichtig Politik und Rechte sind, hat Marylou Martone seit Sébastiens Diagnose, als er 3,5 Jahre alt war und sie von der Kinderpsychiaterin zum ersten Mal das Wort «Autismus» hörte, am eigenen Leib erfahren. Was folgte, war ein Kampf um seine Rechte, um einen Platz an einer Schule, um Unterstützung. «Es reicht nicht, ein grosses Herz zu haben», sagt die Mutter.
Denn auch, wenn Sébastien in den letzten Jahren zahlreiche Fortschritte erzielt habe und viele Dinge selbständig machen könne – ganz allein leben kann er nicht. «Ich nahm sogar an Demonstrationen für die Rechte meines Sohnes teil», sagt Martone. Dieses politische Bewusstsein will sie ihrem Sohn mitgeben und ihn bei der Abstimmung so neutral wie möglich informieren.
Kritik, dass Menschen mit Behinderung bei einer Abstimmung von Angehörigen oder Beiständen beeinflusst werden könnten, versteht sie. «Aber kann das nicht auch in anderen Familien passieren?» Das sieht auch Jérôme Laederach so. Eine Beeinflussung könne man nirgendswo ausschliessen.
In erster Linie gehe es aber um Gleichberechtigung. «Auch, wenn Menschen mit einer sehr schweren Behinderung nicht abstimmen werden können, sie alle sollen zumindest das gleiche Recht haben», sagt Laederach.
Denn selbst, wenn am 7. März nur sehr wenige Personen mit Behinderung tatsächlich auch an die Urne gehen werden, so tue das dem Nutzen des Rechts keinen Abbruch. Er sieht darin viel mehr die Möglichkeit, die Gesellschaft zu sensibilisieren – und zu verbessern.
«Statt dass eine Person nicht wählen soll, weil sie die Vorlage nicht versteht, sollten wir besser alles daransetzen, die Vorlage für alle verständlich zu machen.» Davon, ist Laederach überzeugt, würden schlussendlich auch andere Personen profitieren, die sich mit den Abstimmungen schwer tun.
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